Schon wieder die Polizei. Es ist Sonntagmorgen, 10.23 Uhr. Ich stehe seit zweieinhalb verfluchten Stunden an der Ausfahrt der Raststätte Grauholz bei Bern; in der Hand eine Kartontafel, auf der «Süden» steht. Die Streife hatte schon einmal angehalten und mich weiter von der Fahrbahn weggeschickt. Alle anderen Autofahrer haben mich ignoriert. Vielleicht ist ihnen mein vages Ziel suspekt; vielleicht sind sie selbst nicht sicher, ob sie Richtung Süden fahren. Jedenfalls halten sie nicht.

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Die Zufallsroute Richtung Süden


«Immer noch nicht im Süden?», fragt der Beamte. Seine Kollegin kichert. «Dabei sehen Sie gar nicht so leid aus.» Schön, dass das auffällt. Ich habe mich bewusst gegen meine bisher treusten Reisegefährten entschieden - einen Seesack und meinen altgedienten Lederhut. Stattdessen stehe ich mit weissem Hemd und sportlichem Rucksack am Strassenrand und versuche, freundlich zu lächeln. Anfangs stand ich noch, mittlerweile sitze ich auf einem Stein und perfektioniere meinen Hundeblick. Charme scheint an Windschutzscheiben abzuprallen wie Käfer und Regentropfen. Also muss es Mitleid richten.

Ich will herausfinden, wie weit man per Anhalter in 48 Stunden kommt. Allgemeine Richtung: Süden. Ich will ans Meer, wo, ist mir egal. Aber so, wie es bisher läuft, werde ich es nicht einmal bis nach Köniz schaffen.

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Sonntag, 11.11 Uhr: Rock sei Dank - Angehörige der Band Redwood erbarmen sich.

Vegetarier sind Feiglinge
Kurz vor elf kommt der Erlöser; unerwartet und zu Fuss. Lange Haare, schwarze Kleider. Ein Rocker. «Wir sind unterwegs nach Nyon; mit dir sind wir vier, in einem kleinen, verdreckten Auto, aber wenn du willst, kannst du mitkommen. Meine Freundin ist drüben beim Parkplatz.» All das sagt er, ohne sich vorzustellen.

«Ich bin Sarah, Marks Freundin - und das ist Little Blueberry Muffin.» Sie tätschelt das Auto. «Weil es klein und blau ist.» Mark ist Gitarrist von Redwood, einer Schweizer Rockband, die vor einem Jahr den Durchbruch schaffte; der Dritte im Bunde ist Sven, der Mischer. Die drei sind unterwegs ans Open-Air-Festival Nyon, wo Redwood am Nachmittag auftreten wird.

Um 10.58 Uhr rollen wir auf die Autobahn. Endlich unterwegs. «Will jemand eine Zigi?», fragt Sarah. Sehr gut. Ich bin Gelegenheitsraucher, und Reisen bieten immer viele Gelegenheiten. Das folgende Gespräch dreht sich um Sven, der vom Vorabend verkatert ist, und um Vegetarier, die feige Leute sind, weil sie Lebewesen essen, die nicht weglaufen können.

Die drei setzen mich auf der Raststätte Aire du Jura bei Lausanne ab. «Häsch no Zigi?», ruft mir Sarah nach. Ich nicke. «Und geh den Psychos aus dem Weg», fügt sie an, als wäre das etwa ähnlich wichtig.

Um meinem Glück etwas nachzuhelfen, spreche ich Leute an, die tanken. Ich würde mich natürlich an den Benzinkosten beteiligen. Ein Schweizer Ehepaar mit Wohnmobil lehnt mein Angebot freundlich, aber bestimmt ab: «Nein danke, wir nehmen niemanden mit.» Eine Französin lässt mich nicht einsteigen, weil sie eben beinahe am Steuer eingeschlafen wäre. Sie will lieber alleine sterben - «désolée». Zwei Holländer, die meine Kontaktversuche beobachtet haben, winken schon von weitem ab. Ich postiere mich an der Ausfahrt.

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Sonntag, 14.16 Uhr: Kawanth Singh Johal hält an - «ich nehme immer Stöppler mit».


Es dauert eine Stunde, bis Kawanth Singh Johal anhält. Der gebürtige Inder fährt einen alten BMW mit Tempomat - «like an aeroplane» - und muss nach Genf. Er nehme immer Stöppler mit, sagt er. Ob ich schon mal in Genf gewesen sei? Ich verneine; nur am Bahnhof. «I show you nice place - this will make you very happy», sagt er. Kawanth setzt mich am Seebecken beim Jet d’eau ab. Schön, aber Reisende um der Reise willen machen nicht Orte very happy, sondern zurückgelegte Strecken.

Der Abstecher ins Stadtzentrum rächt sich prompt - in Form eines eineinhalbstündigen Fussmarsches zurück an die Autobahnauffahrt. Ein Schöngeist hat das mal «entschleunigen» genannt. Ich nenne es anstrengend. Als ich an der Auffahrt ankomme, ist es bereits 15.43 Uhr. Der Ort ist denkbar ungünstig für Autostopp: eine Baustelle im Industriegebiet und kaum Platz und Zeit zum Anhalten - Niemandsland genevois. Ich zolle der Sprachregion Respekt und schreibe «France» und «Frontière» auf eine meiner Kartontafeln.

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Sonntag, 15.45 Uhr: Genfer Lokalromantik


Nach einer Stunde hält ein kleiner weisser Wagen. Die Lenkerin stellt sich als Stéphanie vor. Sie wohne in Perly, einer kleinen Gemeinde nahe der Grenze, und fahre zwar nicht heute, aber wahrscheinlich morgen nach Marseille, um Verwandte zu treffen. Sie würde mich mitnehmen. Ich biete an, ihr meine Handynummer zu geben, dann könnte sie mich morgen irgendwo aufgreifen. «Oder du schläfst auf meiner Couch», sagt sie. Was sagt man dazu? Stéphanie setzt mich vor einem kleinen Laden ab, weil sie noch etwas zu erledigen hat. Sie rufe mich später an.

Eine Couch zum Schlafen und morgen eine Fahrt bis ans Mittelmeer - mehr kann man nicht verlangen. Ein versöhnliches Ende für den ersten Tag, auch wenn ich nicht bis Frankreich gekommen bin.
Ich kaufe eine Büchse Cola und setze mich auf einen der Plastikstühle, die vor dem Laden stehen. Er heisst «Chez Nuhi - Tabac-Journaux». Nuhi ist Kosovare und seit 20 Jahren hier. Wo ich hinwolle, fragt er. Ans Meer, sage ich und beklage mich gleich über engherzige Autofahrer, die niemanden mitnehmen. Nuhi zuckt mit den Schultern. Er verstehe das - «bei allem, was man so hört».

Ich erzähle ihm von Stéphanie. «Pas mal», sagt er und nickt anerkennend. Eigentlich müsste sie schon angerufen haben, denke ich und blicke auf die Uhr: 18.15 Uhr. Langsam versiegt das Gespräch. Um Zeit totzuschlagen, würfeln wir. In drei Versuchen sind fünf Gleiche zu schaffen. Es geht nur um Glück und Geduld, fast wie beim Autostopp.

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Sonntag, 19.29 Uhr: Plaudern mit Nuno

Die Angst vor Bösewichten
Nach einer Weile setzt sich Nuno Félix zu uns, ein portugiesischer Feldarbeiter. Er trägt einen grossen Lederhut und eine Weste. An einem guten Tag könnte er locker als Antonio Banderas durchgehen, trotz rauen Händen. Nuno ist äusserst redselig. Allerdings tut er nur so, als ob er Französisch spräche. Eigentlich spricht er Portugiesisch mit französischem Akzent. Wenn man unterwegs ist, kommt einem die Fremde manchmal entgegen, denke ich. Er erzählt von Portugal; von den reichen Leuten, die kubanische Zigarren rauchen, und von kleinen Leuten wie ihm, die arm seien, aber dafür keine Sorgen hätten - «no problema». Und er erzählt von den Leuten im Süden Portugals, die sagen, dass dein Feuerzeug rot sei, obwohl es schwarz ist, und es einstecken, obwohl es deins war. Soll wohl heissen, sie lügen und klauen dort unten.

Mittlerweile ist es fast 20 Uhr. Stéphanie hat sich noch immer nicht gemeldet. Wahrscheinlich hat sie ihre Meinung geändert. Marseille rückt damit wieder in weite Ferne. Wenn ichs bis ans Meer schaffen will, muss ich morgen doppelt so weit kommen wie heute. Also werde ich heute noch über die Grenze gehen. Die sei gleich da hinten, sagt Nuhi, nur 300 Meter von hier.

Gerade als ich mich auf die Socken machen will, klingelt mein Telefon. «C’est Sté.» Sie sei jetzt so weit und komme mich holen. Nuhi und Nuno gratulieren mir.

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Sonntag, 23.12 Uhr: Übernachten in Perly


Zehn Stunden später stehe ich an einer Autobahnauffahrt bei Annecy, ungefähr 60 Kilometer südlich von Genf. Das kam so: Als ich aus Stés Dusche kam, eröffnete sie mir, dass sie doch nicht nach Marseille fahre. Ihre Verwandten hätten gerade angerufen und gesagt, sie kämen erst einen Tag später. Aber sie werde mich anderntags trotzdem nach Frankreich rüberfahren, weil sie ein schlechtes Gewissen habe, der leeren Versprechungen wegen. «Immerhin hat dir heute Nacht keiner die Kehle aufgeschlitzt», schob sie nach.

Es gibt Leute, die nehmen einen mit, damit es nicht ein Bösewicht tut. Andere tun es nicht, weil man selbst einer sein könnte. Autostopp führt einem deutlich vor Augen, wie beliebig Bekanntschaften sind.

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Montag, 9.10 Uhr: Kriegsveteran Christian


«Die Dinge ordnen sich selbst», sagt Christian. Man wisse nie, was passiert. Er hat mich in Annecy aufgegabelt und kürzlich «une femme brillante» getroffen. «Dir kann ich das erzählen, wir sehen uns ja eh nie mehr.» Es könne sein, dass sich jemand, den man mitnimmt, danach von der nächsten Brücke stürzt. Ich will nur ans Meer.

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Montag, 7.51 Uhr: bei Cruseilles

«Kannst du Zigaretten drehen?»
Christian ist Künstler. Ich schätze ihn auf Anfang 60. Er macht Landschaftszeichnungen und Ethno-Musik. Vorher war er 32 Jahre lang in der Armee - «Gebirgsjäger». Während des Jugoslawien-Krieges war seine Einheit in Bosnien. «La guerre, c’est grisante», sagt er - berauschend. Er verstärke das Zwischenmenschliche. In den schlimmsten Momenten hätten die Menschen in Bosnien die schönsten Feste gefeiert.

Um 10.30 Uhr setzt mich Christian an einer Zahlstelle auf der Autobahn ab. Er muss an der nächsten Abzweigung nach Westen. Weil mich das Personal von der Autobahn verscheucht, stehe ich auf einer kleinen Landstrasse im Nirgendwo, südlich von Chambéry. Keine Ahnung, wo ich bin.

Noch während ich im Rucksack nach der Karte krame, hält ein kleiner Peugeot hinter mir. Annick will sich in Avignon mit einer Freundin treffen. «Das ist zu weit, um alleine zu reisen. Kannst du Zigaretten drehen?» Fortan herrscht Arbeitsteilung: Sie fährt, ich drehe Zigaretten.

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Montag, 11.49 Uhr: Fahrt Richtung Avignon


Bis nach Avignon sind es 280 Kilometer, immer der Rhone entlang. Aus dem Lautsprecher brummeln Chansonniers ihre traurigen Geschichten. Wir passieren Grenoble und Valence und kommen an dem Atomkraftwerk vorbei, aus dem 2004 radioaktives Wasser ausgetreten ist. «Apokalyptisch», kommentiert Annick. Sie ist Französischlehrerin, etwa Mitte 40, und fragt mich nach lauter französischen Schriftstellern, die ich alle nicht kenne. Zu Beginn versucht sie so behutsam wie vergeblich, mein Französisch aufzubessern, indem sie meine Sätze so wiederholt, wie sie richtig wären. Sie beschliesst bald, mir andere Sachen beizubringen. Im Italienischen gebe es ein Wort, sagt sie, das heisst «stradal». Es stehe für alles, was mit der Strasse zu tun hat. Etwa ein Film stradal. Im Französischen gebe es leider keine Entsprechung dafür. Genau wie im Deutschen. «Mach ein Bild von dem toten Schmetterling im Scheibenwischer. Das ist auch stradal.» Kollateralschaden des Fernwehs, quasi.

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Montag, 12.15 Uhr: Kollateralschaden


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Montag, 12.24 Uhr: AKW Cruas-Meysse


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Montag, 17.42 Uhr: Avignon - eine Bäckerei, auf der Durchreise


In Avignon treffen wir Annicks Freundin Silvie. Die beiden bringen mich noch bis nach Arles. Bis zum Meer fehlen noch gut 50 Kilometer. Es ist 18.15 Uhr.

In Salin-de-Giraud gebe es einen wilden Campingplatz direkt am Meer, sagt Annick, als sie sich verabschiedet. «Lockere Leute, sonst aber weit und breit nichts.» Vielen Dank für alles, sage ich. «De rien.»

Flamingos und Nackedeis
In Arles stehe ich wieder einmal an einer Auffahrt zu einer Schnellstrasse. Der Strassenrand ist eine Unwelt, der Fussgänger ein Fremdkörper. Hier wogt unentwegt die Natur an den Asphalt. Steinbrechende Pflanzen erinnern fortlaufend daran, dass die Natur diesen Kampf irgendwann gewinnen wird. In Frankreich zumindest.

Ein Mittzwanziger namens Mohammed schiebt seinen Feierabend um 20 Minuten hinaus, nur um mich an eine bessere Stelle zu fahren. «Da, wo du gestanden bist, hält keiner. Ich bin hier aufgewachsen.» Die Leute hier seien «cons», sagt er. Und macht trotz dem Schimpfwort ein Handzeichen, das bei uns bedeutet, dass alles in Ordnung ist. Ich sollte mir das merken.

Um 19.30 Uhr nimmt mich eine junge Frau mit. Zwischen Arles und Salin-de-Giraud gibt es nichts ausser Weiden und Reisfelder, nach Salin nicht einmal mehr das. Nur Sumpfbecken. In den Pfützen stehen Flamingos.

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Montag, 20.03 Uhr: noch zehn Kilometer


Ich nehme die letzten zehn Kilometer zu Fuss in Angriff. Irgendwann fährt ein Wagen an den Strassenrand. Ein Vater mit Töchterchen und Sohn, am Rückspiegel ein Playboy-Bunny-Plüschherz. Sofort beginnt er vom Camping sauvage zu schwärmen: «Sie waren noch nie da? C’est super. Man kann campieren, wo man will; es hat eine Snack-Bar und einen Bereich für Nudisten - sind Sie Nudist? -, das ist der sauberste Teil. Aber dahinter, da ist ein Wäldchen. Da verstecken sich Kerle, die andere Kerle suchen», sagt er lachend. Und zu seinem Sohn: «Da gehst du nicht hin, klar?»

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Montag, 20.23 Uhr: «Sind Sie Nudist?»


Am Eingang des Campings hält er an, 300 Meter vom Meer. Links eine Imbissbude - «Chez Cathy». Eine Strandhütte mit Wellblechdach, Neonlicht und Plastikstühlen. «Die Nudisten sind da hinten», sagt mein Fahrer noch und braust los.

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Montag, 21.49 Uhr: Imbissbude «Chez Cathy», wilder Campingplatz in Salin-de-Giraud


Der Camping ist ein riesiger Sandplatz, an dessen Rand Wohnmobile und Zelte stehen. Jemand hat eine Piratenfahne aufgezogen. Zwei Hunde jagen einander hinterher. Es ist 20.15 Uhr. 36 Stunden bis ans Meer. Ich werde am Strand schlafen. Und mir morgen einen Frühschwumm genehmigen, bevor ich mich auf den Heimweg mache. Mit dem Zug bin ich in ein paar Stunden zu Hause. Ich drehe mich um. Nichts als Landstrasse. Zum nächsten Bahnhof gehts wohl nur per Autostopp.

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Dienstag, 9.21 Uhr: Salin-de-Giraud