Kaum hatte die 19jährige Frau die Tür zur Toilette in der Hand, wurde sie am Arm gepackt und ins Zugs-WC gedrängt. Soldaten hörten ihre Schreie und klopften an die Tür. Die Frau konnte die Türe öffnen und entkommen. Ihr Angreifer, ein 27jähriger jugoslawischer Asylbewerber, stürzte sich aus dem WC-Fenster und blieb schwerverletzt neben den Gleisen liegen. Freitag nachmittag, Mitte Mai, im Intercity-Zug zwischen Lausanne und Freiburg.

Solche Nachrichten sind Gift für den öffentlichen Verkehr. Allein die SBB notieren pro Jahr um die 5000 «Ereignisse»: Schäden an Waggons und Bahnhöfen, versprayte Züge, Pöbeleien, Drogenkonsum, Diebstahl, Ubergriffe.

Einiges liegt im argen
Das Problem ist nicht neu. «Es muss dringend gehandelt werden», sagte Max Friedli, Direktor des Bundesamts für Verkehr, bereits vor vier Jahren. Der Bundesrat wollte damals den Bahnen beim Aufbau von Sicherheitsdiensten finanziell helfen. Doch der Vorschlag wurde schubladisiert.

Damit gilt nach wie vor ein Gesetz, das vor mehr als hundert Jahren gemacht wurde – um genau zu sein 1878. Demnach dürfen die Bahnen zwar Sicherheitskräfte engagieren, bezahlen müssen sie diese aber selber. Ausserdem ist es der Bahn verboten, selber Strafen auszusprechen.

Doch jetzt geht die Bundesbahn in die Offensive. Das neue Organigramm der zur AG mutierten SBB enthält eine Abteilung «Personensicherheit». Bisher waren viele ein bisschen, aber niemand richtig dafür zuständig. Das Ziel ist klar. «Wir wollen neue Kunden holen und bestehende Kunden an uns binden», sagt Abteilungschefin Madeleine Descloux.

Die Bahn werde aber nur gewählt, «wenn wir Sicherheit und Qualität liefern können». Und da bleibt einiges zu tun. Zwar sagt Madeleine Descloux: «Im Zug ist es nicht gefährlicher als in jedem anderen öffentlichen Raum», und die Statistiken geben ihr recht. Doch viele Bahnreisende sehen das anders.

Dunkle Bahnhöfe und schlecht benutzte Regionallinien vermitteln das Gefühl von Unsicherheit – vor allem in den Abendstunden. So fühlen sich in der Zürcher S-Bahn tagsüber mehr als 90 Prozent der Kunden wohl, am Abend sind es nur noch gut 30 Prozent.

Beachtliche Einbussen
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich die 140 SBB-eigenen Bahnpolizisten vorwiegend mit auf den Sitzen parkierten Schuhen beschäftigen. Oder mit Rauchern im Nichtraucherabteil. Oder mit Jointpaffern im Raucherabteil.

Wie viele verängstigte Reisende den Zug abends meiden, weiss niemand. Sicher ist aber, dass dies «beachtliche finanzielle Konsequenzen für die Bahnunternehmungen» mit sich bringt, wie der Bundesrat schon 1995 festhielt.

Deshalb machen die SBB jetzt die «Sicherheit im Zug» zum Verkaufsargument im Wettbewerb gegen die Strasse. «Die unerwünschte Kundschaft darf sich bei uns nicht mehr wohl fühlen», sagt Madeleine Descloux. Die erwünschte Kundschaft hingegen soll möglichst positive Signale empfangen.

Neues Sicherheitskonzept
Im Herbst will die SBB-Geschäftsleitung ein Konzept diskutieren, bis zum Jahr 2001 sollen die wichtigsten Ideen umgesetzt sein. Hier sind sie:

  • Optimierung der Bahnpolizei: Statt die 140 Sicherheitsleute primär in Zügen und Bahnhöfen von Ballungszentren patrouillieren zu lassen, wird ein flächendeckender Einsatz geprüft. Dazu muss allenfalls mehr Personal angestellt werden. «Unsere Bahnpolizisten müssen aktiver auf die Kundinnen und Kunden zugehen und nicht warten bis etwas passiert – sie werden entsprechend geschult», sagt Madeleine Descloux. Auch Auskünfte geben oder Koffer tragen soll künftig zum Service gehören.

  • Video und Notrufsäulen: Es wird geprüft, ob mehr Videokameras und Notrufsäulen installiert werden müssen. Heute sind nur die grösseren Zürcher Bahnhöfe mit Video ausgerüstet.

  • Freundliche Grossbahnhöfe: «Im einst so sicheren und gepflegten Bahnhof Bern ist man seines Lebens nicht mehr sicher», beklagten Berner SVP-Stadträte vor zwei Jahren. Kurz zuvor war in der Unterführung ein Drogenhändler getötet worden. Inzwischen wurde die Bahnhofhalle umgebaut und aufgehellt. Sicherheitspatrouillen und sanfte klassische Musik sollen diffuse Ängste vertreiben. Eine ganze Reihe von Bahnhöfen sollen ebenfalls freundlicher werden.

  • Belebte Kleinbahnhöfe: Ende April lancierten SBB, Migros und die Kiosk AG die ersten zwei «Avec»-Läden an den Berner Haltestellen Schüpfen und Brügg. «So beleben wir Bahnhöfe, die sonst bald automatisiert und verlassen wären», sagt SBB-Chef Benedikt Weibel. Zu kaufen gibt es Bahnbillette, Lebensmittel, Kioskartikel und Kaffee an der Bar. Im Herbst folgt der dritte Laden in Mettmenstetten ZH. Geplant sind rund 40 weitere Geschäfte.


In ihren Anstrengungen sind die SBB nicht allein. Auch die Staatsbahnen im angrenzenden Ausland bemühen sich um mehr Sicherheit für ihre Zugsgäste. So hat die französische SNCF ihre Bahnpolizei seit 1993 auf 1500 Personen verdoppelt.

Sicherheit für mehr Umsatz
Besonders interessant für die SBB ist ein Projekt im Grossraum Frankfurt. Seit Anfang Jahr werden dort alle S-Bahn-Züge ab 21 Uhr von einer Sicherheitsperson begleitet. «Die Fahrgäste fühlen sich einfach wohler, wenn sie wissen, dass jemand an Bord ist, der sich für ihre Sicherheit verantwortlich fühlt», sagt Oberbürgermeisterin Petra Roth.

Das neue Personal kostet zwar 19 Millionen Mark, doch die Bahn will im Gegenzug mehr Fahrkarten verkaufen und zusätzliche Schwarzfahrer erwischen. Wenn’s klappt, kommen so 21 Millionen Mark herein.

Mehr Sicherheit bringt also im besten Fall auch mehr Umsatz und Ertrag. Beides können die Bahnen gut gebrauchen. Denn Bundesrat Moritz Leuenberger sagt es klar: «Die SBB müssen Marktanteile von der Strasse zurückgewinnen.»

Weniger Unfälle trotz Personalabbau

Die SBB bauen stetig Personal ab. Das gefährde die Sicherheit, warnen die Eisenbahner. Doch SBB-Chef Benedikt Weibel beruhigt mit Zahlen.

«Mit welchem Personalbestand kann das Bahnsystem noch sicher betrieben werden?» Das will Ernst Leuenberger seit Monaten von den SBB wissen. Doch der Chef der Eisenbahnergewerkschaft SEV wird immer wieder vertröstet.

Dabei ist Leuenbergers Frage berechtigt. Vor zehn Jahren hatten die SBB noch 39'000 Personen auf der Lohnliste; jetzt sind es weniger als 30'000. Und der Abbau geht weiter. «Wer an der Sicherheit schraubt, nimmt der Bahn ein wichtiges Marketinginstrument weg», warnt der SEV-Funktionär Leuenberger.

Ähnlich argumentieren die deutschen Bähnler. Denn auch die Deutsche Bahn AG will ihren Personalbestand massiv reduzieren – von über 300'000 auf 193'000 im Jahr 2003. Entsprechend heftig verweisen die Personalverbände auf die Pannen- und Unfallserie der letzten Zeit.

Doch für SBB-Chef Benedikt Weibel hat das andere Gründe: «Die Deutsche Bahn erlebt momentan, was wir mit unserer Unfallserie 1994 durchgemacht haben.» Der Personalabbau gefährde die Sicherheit nicht, sagt Weibel: «Wenn ich ein manuell betriebenes Stellwerk durch ein automatisches ersetze, spare ich Personal und gewinne Sicherheit.»

Tatsächlich ist die Bahn sehr sicher. Die Zahl der Todesopfer ist seit 1990 von 60 auf rund 20 pro Jahr gefallen – inbegriffen sind die an Bahnübergängen Verunglückten. Zum Vergleich: Im Strassenverkehr sterben jedes Jahr rund 600 Menschen.

Auch die Zahl der Zusammenstösse und Entgleisungen ist gesunken. An diesem Trend werde sich nichts ändern, sagt der ETH-Professor und Bahnexperte Heinrich Brändli. «Kein Unternehmen, das überleben will, hat ein Interesse an Halbheiten bei der Sicherheit.»