Alexandra F.: «Meine Schwägerin streicht immer heraus, wie viele gute und furchtbar wichtige Freunde sie habe. Ich finde das prahlerisch. Meine Tochter sagt allerdings, ich sei nur neidisch. Möglicherweise ärgert es mich, weil ich selber nicht so kommunikativ bin. Was meinen Sie dazu?»

Auch wenn ich Ihre Gefühle gut verstehen kann: Ich fürchte, dass zumindest ein Teil davon wirklich den hässlichen Namen «Neid» verdient. Aber sogar im Neid steckt eine Chance.

Sie sagen es selbst: Die Schwägerin trumpft mit etwas auf, was Ihnen selber schwerfällt. Es gibt also nur eine Lösung: Erlernen Sie das Verhalten, um das Sie sie beneiden – verbessern Sie Ihre Sozialkompetenz. Vielleicht brauchen Sie dazu am Anfang die Unterstützung Ihrer Tochter, Ihres Partners, einer Kollegin, oder Sie nehmen sogar einen Kommunikationskurs oder ein Coaching in Anspruch. Sie werden sehen, sobald Sie einen Einstieg geschafft haben, wird Ihnen das Erfolgserlebnis Kraft für die Weiterentwicklung geben, und das Auftrumpfen Ihrer Schwägerin wird Sie absolut kaltlassen – oder Sie werden darüber lächeln.

Ein Verlierer-Gefühl

Wir alle sind von Zeit zu Zeit neidisch. Es wurmt uns, dass andere etwas haben oder sind, was uns fehlt. Obwohl in der Konkurrenzgesellschaft weit verbreitet und einer ihrer Motoren, gilt Neid als ausgesprochen hässliches Gefühl. Es ist assoziiert mit Missgunst und Kleinlichkeit – die schäbige grüngelbe, bittere Seelenregung der Verlierer und Zukurzgekommenen. Weil wir uns alle lieber als strahlende Gewinner sehen möchten, gestehen wir uns normalerweise nicht ein, dass wir neidisch sind. Wir verdrängen das beschämende Gefühl und entwerten stattdessen den Erfolg der beneideten Personen oder diese selbst.

Als mein Nachbar einen Wintergarten baute, fand ich das Ding äusserst hässlich. Der Nachbar ging mir in seiner ständigen Aktivität auf die Nerven, und jeder neue Handwerker ärgerte mich samt seinem Klopfen, Bohren oder Schleifen. Bis ich mir eingestehen musste, dass ich schlicht und einfach neidisch war. Nach der Überwindung der ersten Scham darüber, dass ich als bejahrter Psychologe immer noch eines derart schäbigen Gefühls fähig bin, begann ich, den Neid zu analysieren. Ich erkannte, dass es nicht um den Wintergarten ging. So etwas brauche ich nicht. Aber ich beneidete meinen Nachbarn um die Möglichkeit, etwas Neues kreativ zu gestalten. Sobald ich den Plan gefasst hatte, im alten Haus einer Verwandten eine neue Heizung einbauen zu lassen und mit Architekt und Ingenieur ins Gespräch trat, war mein Neid wie weggeblasen.

Den Neid als Wegweiser benutzen

In jedem Anfall von Neid steckt eine Herausforderung. Der Neid zeigt uns, wo ein Stück Selbstentfaltung, ein Stück Expansion unseres Lebens möglich wäre. Wir sind vor allem auf das neidisch, was in uns als Potential vorhanden ist, was wir aber bisher zu realisieren versäumt haben.

Wer den Neid als Wegweiser fürs Leben benützen will, muss zuerst erkennen können, dass ihn dieses verpönte Gefühl plagt. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt für die Weiterentwicklung und Erleichterung: den Neid anerkennen und nicht verdammen oder unterdrücken, sondern sorgfältig hinschauen, was des Pudels Kern ist. Man wird selten genau das tun oder haben müssen oder können, worum man jemanden beneidet, aber in dieser Richtung liegt der Mangel, unter dem wir leiden.

Haben wir diesen einmal erkannt – denn es kann sich sehr wohl um ein unbewusstes Bedürfnis handeln –, können wir kreativ nach Wegen suchen, ihn zu beseitigen. Oft müssen wir dabei über unseren Schatten springen, einen mutigen Schritt wagen oder Konflikte in Kauf nehmen. Aber alles ist besser, als in bitterer Missgunst zu versauern. Menschen sind eben ausserordentlich bequem – wirkliche Fortschritte in unserer Persönlichkeitsentwicklung machen wir nur, wenn wir leiden.

Verena Kast: «Neid und Eifersucht. Die Herausforderung durch unangenehme Gefühle»; Verlag dtv, 1998, 224 Seiten, Fr. 14.90