So macht Städte entdecken mehr Spass
Wer die spannendsten Seiten einer Stadt sucht, braucht keinen Reiseführer. Wir stellen vier Methoden vor, die genauso gut sind – und erst noch viel mehr Spass machen.
Veröffentlicht am 13. September 2016 - 10:00 Uhr
Was der Lonely Planet für Städtereisen einst war, ist jetzt das Onlineportal Tripadvisor. Eine säuberliche Liste aller Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten, bewertet nach Beliebtheit. Damit ist es ein Einfaches, den Tag zu planen: Man klappert nacheinander einfach jene Highlights ab, die am meisten Sterne erhalten.
Die Gefahr solcher Reisen ist die Einförmigkeit. So besucht man vor allem solche Orte, wo es von Touristen nur so wimmelt. Ausserdem geht das verloren, was eine Stadt erst ausmacht: die Lebendigkeit. Kleine Details, überraschende Leute, authentische Begegnungen. Und nicht nur die Fassade, die die Stadt den Touristen präsentiert.
Für Städte sind Geheimtipps aber eher schwierig zu finden, werden sie doch allzu schnell wieder zum Mainstream. Als Reiseblogger vor einigen Jahren etwa begeistert auf den Trend des Urban Exploring aufsprangen, verrieten sie in ihren Artikeln die Standorte von verlassenen Orten, die sonst nur Eingeweihte kannten. Ein Beispiel sind die Beelitz-Heilstätten, ein altes Kriegsspital und ein Sanatorium für Tuberkulosekranke in Berlin. Während ursprünglich nur ein paar wenige Neugierige durch die halb verfallenen Räume wandelten, sind es mittlerweile Hunderte, die die alten Pritschen und Operationssäle bestaunen.
Um Touristenfallen zu vermeiden, setzen manche Reisende deshalb auf die Wandermethode: ohne Karte, ohne Google Maps, ohne Reiseführer durch eine Stadt zu spazieren und sich davon überraschen zu lassen, was sich hinter der nächsten Ecke verbirgt. Eine Weiterentwicklung ist das sogenannte Urban Jogging: Dabei rennt man ohne Pläne, dafür mit einem kleinen Rucksack und etwas Wasser einfach los. Wir zeigen vier Möglichkeiten, Städte auf ganz neue Art und Weise zu entdecken. Und testen sie an Schweizer Städten gleich selber.
Die Zufallsmethode
Für das Abenteuer im Ungewissen schlagen Reisende eine beliebige Buchseite auf und befolgen die Anleitungen. Sie landen nur zufällig auf abgetretenen Touristenpfaden, während sie Gerüche sammeln, einem Passanten folgen oder ihn beschenken. Amüsante Essays belegen, dass einem die ungewöhnlichen Erfahrungen die Stadt näherbringen.
Lena Grossmüller: «Reiseführer des Zufalls»; Kommode-Verlag, 2015, 156 Seiten, CHF 27.90
Besonders geeignet für neugierige Alleinreisende
Ein Kribbeln setzt ein. Plötzlich scheinen Luganos Gassen aufregend, fast abenteuerlich. Für das erste Experiment muss eine beliebige Sehenswürdigkeit her. Dann gehts ans Fotografieren – doch die auserwählte Kirche Santa Maria degli Angeli, die neben dem neuen Kulturzentrum LAC steht, soll auf den Bildern nicht zu sehen sein, denn geknipst wird mit dem Rücken zu ihr. Die Hinterseite belohnt mit Alltagskomik: Direkt unter dem Parkschild «Reserviert für den Pfarrer» steht ein defekter Stuhl.
Danach gehts durch die Einkaufsmeile Via Nassa, bis einem jemand mit Hut, Tattoo oder einem Tier begegnet. Der Koch Alessio zeigt bereitwillig seine Körperbemalung, auch den Totenkopf auf dem Bauch, und hält fürs gemeinsame Beweisfoto hin.
Als Nächstes ist man «blinder Passagier»: Im Bus mit der verlockendsten Endstation – in Lugano klar «Paradiso» – gilt es, die Augen zu schliessen. Darauf wird das Paradies nicht nur besichtigt, sondern auch berührt. Der Weg entlang von Gartenzäunen und den daraus hervorragenden Blättern führt zu einer Autobahn. Auch diesem Flecken gewinnt der Führer etwas Erinnerungswertes ab. «Tue etwas, was du als Kind gerne getan hast», steht da, und bald ist der Löwenzahn am Strassenrand gepflückt, und die Schirmchen sind verpustet.
Lugano hält neben ästhetischen Altbauten auch wüste Betonklötze bereit, doch der Tristesse der Blockhäuser wirkt die typisch lebendige Geräuschkulisse entgegen. Kinderstimmen, in voller Lautstärke sprechende Fernsehmoderatoren, klapperndes Geschirr, das durch offene Fenster und Haustüren klingt.
Die spielerische Erkundung schärft nicht nur den Blick für die Umgebung, sondern regt auch dazu an, eigene Spielregeln zu erfinden. Die Hotspots passiert man ganz nebenbei – etwa wenn man einen jungen Mann verfolgt, der einen zum Ausblick des Parco Panoramico führt.
Für die grössten Überraschungen sorgen die Anwohner. Wie Ricardo, den man gebeten hat, eine Postkarte für einen zu schreiben. Jeden Dienstag und Freitag verkauft er «Habseligkeiten von Verblichenen» an der Piazzetta della Posta. Mit Pluderhosen und zottigem Haar erinnert er an die Opernfigur Papageno – und tatsächlich trat er früher als Operntenor auf. Oder der gutaussehende Barkeeper. «Kaufe Blumen für dich oder jemand anderen», lautete die Aufgabe. Jonas, mit Sonnenblume in der Hand, kommt hinter dem Tresen hervor und lädt auf einen Drink ein. Zufall? Schicksal!
Die Schnitzeljagdmethode
Geocaching ist eine Art Schnitzeljagd per GPS – eine elektronische Schatzsuche. Die Koordinaten der Verstecke – sogenannte Caches – werden im Internet veröffentlicht. Wenn man einen Cache findet, schreibt man seinen Namen in das Logbuch und legt ihn sorgfältig zurück. Weltweit gibt es über 2,6 Millionen Geocaches, die auf Finder warten.
Geeignet für Abenteuerlustige und Familien, die gern Rätsel lösen
Wie zur Hölle soll ein solcher Cache aussehen? Wir stehen beim Versteck «Der Bäumige» – eine mächtige Buche, die neben der Altstadt von Solothurn in den Himmel ragt. Am Stamm ist nichts ersichtlich, auf dem Boden auch nicht. «Muss man vielleicht auf den Baum klettern?», rätselt mein Suchkumpan. Da das Internet auf dem Smartphone aus unerfindlichen Gründen nicht funktioniert, können wir die genaue Beschreibung des Caches nicht herunterladen. Auch die nützlichen Hinweise nicht.
Entschlossen zieht mein Kollege Schuhe und Socken aus und steigt auf den Baum. Auf einem Ast entdeckt er etwas Rundes, Braunes und klettert hin. Leider kein Cache – ein Wespennest! Wieder zurück auf dem Boden, mit drei Stichen am Arm, funktioniert das Internet wieder. Und siehe da, der erste Hinweis: «Bitte den Baum nicht besteigen.» Wir entpuppen uns als wahre Geocaching-Anfänger.
Nach nochmals zehn Minuten immer frustrierterer Suche ruft mein Kollege freudig aus. Zwischen Ästen und Blättern versteckt, hängt ein dunkelgrüner Plastikzylinder. Einmal aufgeschraubt, fällt ein Logbuch heraus. Wir jubeln: Wir haben unseren ersten Cache gefunden.
Im Zickzackkurs gehts danach durch die Stadt Solothurn. Neben dem Kloster finde ich über einem Brunnen eine getarnte Dose. Hinter Metallskulpturen an einer Wand in der Altstadt entdecken wir beide nichts; nach 15 Minuten ziehen wir frustriert von dannen. Auf dem Schiffssteg erspäht der Kollege einen winzigen Cache, der am Geländer klebt. Das Suchfieber hat uns längst gepackt. Wir scheren uns nicht darum, dass wir von Passanten fragend beäugt werden. Stattdessen krabbeln wir am Boden herum, tasten Gullydeckel nach kleinen Dosen ab und ignorieren die Spinnweben, die immer wieder die Suche erschweren.
Nach drei Stunden und sechs Caches stehen wir wieder am Bahnhof. Die Stadt selber ist auf unserer Schatzsuche zwar zur Nebensache verkommen. Aber trotzdem haben wir wunderschöne Ecken Solothurns kennengelernt, die wir ohne Geocaching nicht besucht hätten. Etwa ein kleines Quartier mit sorgfältig gepflegten Gärten. Oder ein kleines Bistro an der Aare, das saftige Oliven verkauft.
Geocaching schärft ausserdem den Blick für das Kleine: Nachdem wir 15 Minuten lang einen Ort abgesucht haben, kennen wir jedes Detail. «Man sieht sicher weniger Highlights als beim klassischen Sightseeing», resümiert mein Suchkumpan und kratzt an seinen Wespenstichen. «Dafür ist es spannender.»
Die Wanderbuchmethode
Auf dem Land von einem gelben Wegweiser zum nächsten wandern kann jeder. Aber in der Stadt? Neue Reiseführer zeigen schöne, überraschende und abwechslungsreiche Routen durch grössere Städte, portioniert in Halbtagesetappen.
Beat Losenegger, Jevgenij Fuchs: «Basel – einfach wandervoll»; Werd-Verlag, 2015, 252 Seiten, Fr. 39.90. Gibts auch für Bern und Zürich; ab Herbst für Luzern und Biel/Freiburg
Besonders geeignet für kleine Gruppen, die sich gern draussen bewegen
Die böse Überraschung kommt eine Stunde nach Tourbeginn: Eine abgeschlossene Gittertür verhindert das Weitergehen auf dem nigelnagelneuen Uferweg. Links blockieren eine Mauer und ein abgesperrtes Industrieareal den Weg, rechts der Rhein. Selbst wenn man das Hindernis passieren könnte – Videokameras würden einen auf Schritt und Tritt verfolgen.
Im Reiseführer «Basel – einfach wandervoll» steht kein Wort darüber, dass der Rheinuferweg zwischen der Landesgrenze und dem französischen Städtchen Huningue nur am Wochenende geöffnet ist. Und jetzt? Mehrere hundert Meter retour, um das riesige abgesperrte Novartis-Campus-Gelände herum und sich durch französische Quartierstrassen nach Huningue durchschlagen? Oder zurück zur Dreirosenbrücke und es am anderen Ufer via Deutschland versuchen?
Vor Ort ist keine Alternative signalisiert. Die im Wanderführer knapp erwähnte französische Buslinie fährt nur einmal pro Stunde, und die Haltestelle ist einen Kilometer entfernt.
Es ist zum Glück das einzige gravierende Problem beim Versuch, Basel mit dem Wanderführer zu erkunden. Die zehn Etappen führen kreuz und quer durch die Rheinstadt – und auch nach Frankreich und Deutschland. Der abgesperrte Abschnitt zeigt: Auch in einer Stadt ist Wandern nicht ohne Tücken, selbst wenn keine Steinschläge zu erwarten sind und man sich im Fall eines Gewitters rasch ins nächste Tram retten kann.
Anders als etwa in den Voralpen folgen sich hier die Höhepunkte fast Schlag auf Schlag. Die Szenerie ändert rasch vom quietschlebendigen Quartier zur töteligen Neubausiedlung – das macht die Sache abwechslungsreich und attraktiv. Der Wanderführer lotst auch zu verborgenen Schätzen wie verwunschenen Innenhöfen oder kleinen Naturoasen. Allerdings neigt der Autor zu Übertreibungen: Die Elsässerstrasse, beschrieben als «turbulentes Fiasko aus Imbissbuden und kleinen Quartierlädeli, vermengt mit zielstrebigen Menschenmassen und ruhelosem Verkehr», ist werktags am Vormittag so brav und ruhig wie eine Baptistenkirche.
Stadtwandern kann man zwar ohne rote Socken und Rucksack, aber nicht ohne gute Schuhe und Blasenpflaster. Die zehn sieben bis elf Kilometer langen Etappen summieren sich und gehen in die Knochen. Zum Glück empfiehlt der Wanderführer an strategisch gut gewählten Orten Restaurants und Erholungsoasen. Und auch die folgen sich glücklicherweise schneller als beim Wandern in der freien Natur.
Die Einheimischenmethode
Die «International Greeter Association» hat in über 100 Städten der Welt Ableger – beispielsweise in Kairo, Madrid oder Genf. Hier führen die sogenannten Grüsser gratis als Guides durch ihre Stadt, zeigen versteckte Perlen wie ihre Lieblingsbeizen und erzählen persönliche Geschichten.
Geeignet für Alleinreisende, Paare oder kleine Gruppen, die gern neue Leute kennenlernen
An Jean-Jacques ist alles schnell. Das Sprechtempo, das Schritttempo, die Themenfolge. Nach drei Minuten, 200 Metern und einem beeindruckenden Redeschwall schaut der Genfer herüber. «Andere mögen nicht mit, Sie sind aber gut zu Fuss», sagt er freudig.
Bei der ersten Station, der Badeanstalt Bains des Pâquis, lädt Jean-Jacques zum Kaffee ein. Mit Blick auf den Jet d’Eau und das glasklare Wasser des Sees erzählt er von der Tagesplanung: Er hat acht Stunden Zeit, man könnte am Nachmittag mit dem Velo aufs Land fahren. Als der Rentner erfährt, dass er sein Programm um fünf Stunden stutzen muss, verdüstert sich seine Miene kurz. Dann schüttet er den Espresso hinunter und springt auf. «Allons-y!»
Im Eiltempo schreitet er die Rhone hinunter. Links und rechts zeigt er auf Hotels, Restaurants, Hausfassaden, Brücken. «Hier waren früher die städtischen Pumpwerke untergebracht.» «Die Pont de l’Île war für den europäischen Handel enorm wichtig.» – «Diese Fassade wurde früher als modern gefeiert – ist sie nicht hässlich?» Jean-Jacques sprudelt förmlich über vor historischen Fakten über Genf, auch wenn gewisse Details in der Französischflut untergehen.
Nach rund einer Stunde steht Jean-Jacques zum ersten Mal still. Er zeigt auf die Zusammenkunft zweier Flüsse: rechts das grüne Wasser der Rhone, links das braun-trübe der Arve, die sich in der Mitte vermengen. «Früher war die Arve vergiftet, weil Autofabriken ihre Abwässer ungefiltert in den Fluss leiteten», sagt er. Beim Rückweg zur Altstadt erzählt der pensionierte Arzt, weshalb er ein Greeter ist. «Il faut partager» – man müsse teilen. Er selber begleitet etwa eine Person pro Woche durch Genf. Aus der internen Liste wählt er diejenigen Anfragen aus, die am besten passen: «Am liebsten sind mir Touristen, die gern wandern.»
Nach zwei Stunden schmerzen bereits die Beine. Doch Jean-Jacques denkt nicht ans Aufhören. Auf den Friedhof des Rois mit Calvins Grab folgen die Kathedrale St-Pierre und eine Rundtour durch die Altstadt. Und wie im Nu sind drei Stunden verflogen. Gezeigt hat Jean-Jacques nicht nur die Stadt, sondern auch sein persönliches Genf: etwa einen Laden mit exquisiten Scherenschnitten oder ein Bänkchen, wo er besonders gerne sitzt. Die Begegnung hinterlässt das Gefühl, dass ein guter Freund durch die Stadt geführt hat.
«A bientôt», sagt Jean-Jacques. Drei Küsschen gibts. Und dann eilt er schnellen Schrittes davon.