Die Aussicht vom Spital Oberengadin ist atemberaubend. Der Blick ruht auf verschneiten Bergen, ab und zu landet ein Privatjet im Tal auf dem Flugplatz Samedan. Doch das Spitalpersonal hat kaum Musse, die Aussicht zu geniessen. Manche arbeiten bis zum Umfallen

Ans Licht bringen die Probleme zwei Berichte des Bündner Arbeitsinspektorats, die dem Beobachter vorliegen. Der Inspektor schlug am 31. Oktober 2023 zum ersten Mal Alarm. Sein Bericht zählt bis Ende Juli 2023 insgesamt 1171 Verstösse gegen das Arbeitsgesetz auf – 2022 waren es sogar 1976 gewesen.

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«Es wurden unzählige und teilweise gravierende Übertretungen der Arbeits- und Ruhezeitregeln festgestellt.»

Aus dem Bericht des Arbeitsinspektorats

«Es wurden unzählige, unterschiedliche und teilweise gravierende Übertretungen der Arbeits- und Ruhezeitregeln festgestellt», heisst es im Bericht. Einige Mitarbeitende litten «unter bedeutenden psychischen Belastungen». Der Arbeitsinspektor forderte die Stiftung Gesundheitsversorgung Oberengadin (SGO) als Betreiberin des Spitals auf, sofort Massnahmen zu ergreifen, und kündigte eine Nachkontrolle für Juli 2024 an.

«Ein Restaurant würde man innerhalb von 24 Stunden schliessen.»

Pierre-André Wagner, Leiter Rechtsdienst des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachpersonen

Doch die Nachkontrolle verzögerte sich. Statt im Sommer kam der Inspektor erst am 28. November erneut ins Spital. Und stiess immer noch auf «systematische Gesetzesübertretungen». Der Bericht vom 2. Dezember 2024 führt als «krasse Übertretung» das Beispiel einer Assistenzärztin auf, die durchgehend auf Pikett war und manchmal «praktisch rund um die Uhr» arbeitete. An einem Samstag endete ihre 14-Stunden-Schicht kurz vor Mitternacht. 9 Stunden später stand die Assistenzärztin wieder im Spital und arbeitete von Sonntagmorgen bis am Montagabend 32 Stunden am Stück durch. 

«Völlig überarbeitetes Personal ist eine Gefahr»

«Ein Restaurant würde man innerhalb von 24 Stunden schliessen»: Pierre-André Wagner, Leiter Rechtsdienst des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachpersonen, ist schockiert über die Berichte und die dokumentierten Verstösse gegen das Arbeitsrecht. Es brauche nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was das für die Patientensicherheit bedeute: «Völlig überarbeitetes Personal ist eine Gefahr.» 

Was überlange Schichten bedeuten, schildert eine betroffene Person dem Beobachter: «Wir haben uns für eine Stunde auf den Operationstisch gelegt, bevor es weiterging.» Namentlich auftreten will kaum jemand: «Niemand will als schwieriger Mitarbeiter gelten und damit seine Existenz im Tal aufs Spiel setzen.»

Der Beobachter hat die Berichte einer Expertin vorgelegt. «Gravierende Missstände in grosser Zahl», stellt Sabine Steiger-Sackmann fest, ehemalige Dozentin für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. «Massive Überschreitung der Höchstarbeitszeit und der Höchstgrenze der Überzeit, fehlende Ruhezeiten und Ruhetage, Probleme mit Piketteinsätzen und Nachtarbeitszeiten.» Die Expertin hat den Eindruck, dass «die Führungs- und Arbeitskultur eindeutig nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprach». 

«Enorme finanzielle Herausforderungen»

Verantwortlich für die Einhaltung des Arbeitsgesetzes war bis Mitte September 2024 die frühere SGO-Geschäftsführerin Susanne Stallkamp. Der Beobachter hat sie mit der Frage konfrontiert, warum die Mängel nicht – wie vom Arbeitsinspektorat gefordert – behoben wurden. Stallkamp sagt dazu, es sei unter anderem eine Personalkommission eingesetzt und eine vertrauliche Ansprechstelle für Mitarbeitende geschaffen worden. «Enorme finanzielle Herausforderungen» hätten jedoch kurzfristige Anpassungen erschwert. 

Die heutige SGO-Verwaltungsratspräsidentin Prisca Anand wiederum will «Vorwürfe, die die frühere Führung betreffen, nicht kommentieren». Gegenüber dem Beobachter versichert sie, dass die heutige Spitalleitung «intensiv und im engen Austausch mit dem Arbeitsinspektorat an der Behebung der beanstandeten Mängel» arbeite.

Das zweitgrösste Spital in Graubünden steckt in grossen finanziellen Schwierigkeiten

Dabei haben Mitarbeitende schon früh auf die Probleme aufmerksam gemacht. Im Juni 2023 schlug ein Inserat in der «Engadiner Post» ein wie eine Bombe. Darin teilte Ladina Christoffel, Chefärztin der Frauenklinik, dem Tal ihre Kündigung mit. Aufgrund von Sparmassnahmen sei es ihr nicht mehr möglich, die Frauenklinik nach geltenden medizinischen und arbeitsrechtlichen Richtlinien zu führen. «Der Entscheid fiel mir unendlich schwer», hiess es im Inserat. Die Geschäftsleitung habe sie wegen «kritischer Fragen» freigestellt. 

Es hagelte Leserbriefe. «Aufwachen!», forderte eine Silvaplanerin. Das Inserat sei wie eine kalte Dusche. Das passiere also im Engadin, wenn Mitarbeitende Kritik äusserten.

«Breit orchestrierte Kampagne»

«Was ist nur los im Spital in Samedan?», fragte die «Engadiner Post» eine Woche später. Die Zeitung sprach mit Angestellten, die sich nicht gehört fühlten. Das Engadin erfuhr, dass die kürzlich gegründete Interessengemeinschaft Pro Medico Plus des Spitalpersonals einen Hilferuf an die kantonalen Behörden abgesetzt hatte, nachdem sie bei der SGO abgeblitzt war. 

Die damalige Geschäftsführerin Susanne Stallkamp schoss in der gleichen Ausgabe scharf zurück. Man sehe sich mit einer «breit orchestrierten Kampagne» konfrontiert. «Falsche Behauptungen werden an alle möglichen Adressaten gesendet.» Chefärztin Ladina Christoffel habe «mehrfach rote Linien überschritten» und ihre persönlichen Interessen vor jene der SGO gestellt. 

Die ehemalige Chefärztin widerspricht auf Anfrage dieser Darstellung: «Ich wurde meines Erachtens freigestellt, weil ich die Interessengemeinschaft Pro Medico Plus mitgegründet habe, die sich für die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden einsetzt.» Die IG sei gegründet worden, weil es damals keine Personalkommission gab.
 

Spital Oberengadin Samedan GR

Mehrere Führungswechsel in Geschäftsleitung und Verwaltungsrat: Spital Oberengadin, Samedan GR

Quelle: Beobachter

Am 1. September 2023 schlugen Mitarbeitende auch intern Alarm. Sie reichten eine Gefährdungsmeldung ein, erfuhr der Beobachter vom Verband der Pflegefachpersonen. «Eine Gefährdungsmeldung macht Vorgesetzte darauf aufmerksam, dass Patienten gefährdet sind», erklärt Verbandsjurist Pierre-André Wagner. So könne sich später niemand aus der Verantwortung stehlen.

Die Notfallstation habe «wegen Unterbesetzung» Alarm geschlagen, schreibt die SGO auf Anfrage. Die Gefährdungsmeldung sei sehr ernst genommen worden: «Es wurden unverzüglich die erforderlichen personellen Massnahmen ergriffen.» 

«Ohne genügend Personal wird es herausfordernd sein»

Im Jahr 2023 haben am Spital Oberengadin und anderen Betrieben der Stiftung Oberengadin reihenweise Mitarbeitende gekündigt. Der Beobachter weiss von mehreren Burn-outs. Auch der Arbeitsinspektor erwähnt den Personalmangel in seinem Bericht. «Ohne genügend Personal wird es herausfordernd sein, die Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen des Arbeitsgesetzes einzuhalten.» 

Die gravierenden Verletzungen des Arbeitsgesetzes verschwieg die SGO gegenüber der Öffentlichkeit. Sie schrieb Ende Januar 2024 in einer Medienmitteilung: «Die Inspektion zeigte positive wie auch verbesserungswürdige Punkte auf.» Und punkto Patientengefährdung gab die Stiftung Entwarnung. Die Inspektion des Bündner Gesundheitsamts habe «keinen Anlass für weiterführende Untersuchungen gegeben». 

Plötzlich am Rand des Ruins

Doch dann rückten die Sorgen des Spitalpersonals plötzlich in den Hintergrund. Sie gerieten aus dem Blick der Öffentlichkeit, als die Gesundheitsstiftung unerwartet in eine finanzielle Krise stürzte. Das Spital stand plötzlich am Rand des Ruins. Um einen Konkurs abzuwenden, mussten die Oberengadiner Gemeinden bis Ende 2024 volle neun Millionen Franken zuschiessen.

Es kam zu mehreren Führungswechseln in der Geschäftsleitung und im Verwaltungsrat. Mitte September 2024 kündigte die Stiftung einen Befreiungsschlag an: den Vorschlag für einen Zusammenschluss des Spitals mit dem Kantonsspital Graubünden.

«Nicht im legalen Bereich»

Doch die Not des Personals war nicht aus der Welt, nur weil niemand mehr hinschaute. Immer wieder erreichten den Kanton Hilferufe – die Arbeits- und Ruhezeiten seien weiterhin «nicht im legalen Bereich». Als der Arbeitsinspektor im November 2024 zur Nachkontrolle nach Samedan zurückkehrte, stiess er erneut auf einen Berg von Verstössen gegen das Arbeitsgesetz.

Erst vor einem Monat hat die Stiftung Gesundheitsversorgung Oberengadin erstmals arbeitsrechtliche Probleme eingeräumt – anderthalb Jahre nach der ersten Kritik. Um die Vorgaben einzuhalten, brauche es 15 Vollzeitstellen mehr.

Wer wusste vom brisanten Bericht des Arbeitsinspektorats?

Die Stiftung musste im Schlussbericht zur Zukunft des Spitals zugeben, dass es Probleme auf der Gebärstation gibt. Heikel ist die Notfallversorgung. Ein Kaiserschnitt muss innerhalb von 15 Minuten durchgeführt werden können. Das schreibt der Kanton vor. Doch in Samedan ist das dafür nötige OP-Personal in der Nacht nur auf Pikett und schläft zu Hause. Bei einem Alarm müssen die Mitarbeitenden innert Sekunden reagieren, aus dem Bett springen und so schnell wie möglich in den Operationssaal hetzen. Und das in einer Situation, in der jede Minute entscheidend ist.

«Die Mitarbeitenden stehen bei Pikett unter einem enormen Druck, rechtzeitig vor Ort zu sein.»

Philipp Rahm, Dienstplanberater beim Ärzteverband VSAO

Damit spart das Spital Geld. Und nicht nur das: «Mit dem Pikettdienst wird die Verantwortung auf die Mitarbeitenden abgewälzt», kritisiert Philipp Rahm, Dienstplanberater beim Ärzteverband VSAO und selbst Arzt auf einer Notfallstation. «Jede Minute zählt. Die Mitarbeitenden stehen bei Pikett unter einem enormen Druck, rechtzeitig vor Ort zu sein.»

Rudolf Leuthold, Leiter des Bündner Gesundheitsamts, erfuhr erst durch den Beobachter von dieser günstigen Pikettlösung bei der Geburtshilfe. Er sagt ganz klar, dass es so nicht geht: «Wenn man in 15 Minuten vor Ort sein muss, muss das Personal grundsätzlich normal entlöhnt werden.» 

Dann schlug der Sparhammer zu

Die ehemalige Chefärztin Ladina Christoffel sagt, sie habe bereits 2022 intern auf das Problem hingewiesen. Es sollte mit dem Projekt «Fit 4 Future» entschärft werden. Doch die zusätzlich nötigen 600’000 Franken fielen dem Sparhammer zum Opfer.

Verwaltungsratspräsidentin Prisca Anand schreibt auf Anfrage, die Mängel seien erkannt: «Das Spital Oberengadin arbeitet aktiv daran, die Vorgaben zum Notfallkaiserschnitt konsequent umzusetzen, und hat bereits Anpassungen in der Planung vorgenommen.» 

Das Arbeitsinspektorat sprach keine Sanktionen aus

Fragen wirft auch die Herangehensweise des Bündner Arbeitsinspektorats auf. «Man muss sich vor Augen halten, dass in all den Monaten zahlreiche Mitarbeitende durch die Arbeitsbedingungen gesundheitlich gefährdet waren», sagt Arbeitsrechtlerin Sabine Steiger-Sackmann. Trotzdem habe das Amt auf Sanktionen verzichtet und sich darauf beschränkt, Fristen zu setzen.

«Es ist ein Abwägen zwischen Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden und der Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung.»

Bündner Arbeitsinspektorat

Das Arbeitsinspektorat widerspricht. Es sei zielführender, «Betriebe kompetent zu informieren und ihnen die nötige Zeit für Verbesserungen zu gewähren». Besonders in der Gesundheitsbranche, die mit enormen finanziellen und personellen Herausforderungen zu kämpfen habe, seien kurzfristige Korrekturen kaum umsetzbar. «Die SGO arbeitete kontinuierlich an der Umsetzung der verlangten Korrekturen, deshalb wurde bislang auf schärfere Massnahmen verzichtet.» Ein Spital könne im Gegensatz zu anderen Betrieben nicht einfach geschlossen werden: «Es ist ein Abwägen zwischen Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden und der Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung.»

Die Spitalmitarbeitenden im Engadin haben sich öffentlich gewehrt. «Die Leute von Samedan sind Heldinnen für mich», sagt deshalb Pierre-André Wagner vom Pflege-Berufsverband. Öffentlicher Protest sei im Gesundheitswesen rar, «und zwar wegen des Klimas der Angst, das in sehr vielen Spitälern von der Führung kultiviert wird». Das müsse sich ändern.

Quellen
Whistleblower-Plattform

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