Sie fahren Tram und kaufen in der Migros ein. Sie bewohnen die Zimmer über der Kontaktbar, in der sie nachts arbeiten müssen, manchmal teilen sie sich auch eine Wohnung mit anderen Frauen. Sie sind nicht eingesperrt. Trotzdem würde keine zur Polizei gehen. Das haben die Zuhälter sichergestellt. Mit Schlägen, mit Vergewaltigung, mit Drohungen, mit Sätzen wie: «Kannst du fliegen? Das solltest du können. Hier fallen immer wieder Frauen aus dem Fenster.» Oder: «Wir wissen, wo deine Eltern und deine Kinder wohnen, sprichst du, bringen wir sie um.» Das ungeschriebene Gesetz lautet: Verrate niemals deine Peiniger. Selbst wenn du während einer Polizeirazzia im Rotlichtmilieu aufgegriffen und mitgenommen wirst, weil du keine Aufenthaltsbewilligung hast. Wenn eine sich nicht daran hält, machen die Zuhälter ihre Drohungen wahr. Wie bei Sandra aus Brasilien.

Zur Heirat mit Schweizer gezwungen
Sandras Zuhälter ist eine Frau, ihre Cousine. Vor einigen Jahren lockt sie Sandra mit falschen Versprechungen in die Schweiz. Ein Deutschkurs, ein guter Job, ein schönes Leben. Sie holt Sandra am Flughafen ab und bringt sie in ihren Saunaclub. Vom ersten Tag an muss Sandra Freier bedienen, sechs Tage die Woche. Wehrt sie sich, setzt es Schläge vom Ehemann der Cousine. Den Gewinn, oft über 1000 Franken pro Tag, muss Sandra abliefern. Um die Reisekosten zurückzuzahlen, sagt die Cousine.

Da im Saunaclub oft Polizeikontrollen stattfinden und Sandra keine Aufenthaltsbewilligung hat, wird es der Cousine zu riskant. Sie zwingt Sandra, einen Schweizer Bekannten zu heiraten - unter Androhung, der Familie in Brasilien von ihrer Prostitution zu erzählen. Mit der Heirat ist Sandra legal hier. An ihrer Situation ändert sich aber nichts, nur dass sie noch mehr Schulden hat. Für die Verkupplung fordert die Cousine 21'000 Franken. Und dass sie einen Peiniger mehr hat, der sie zur Prostitution zwingt. Ihren eigenen Ehemann.

Irgendwann fasst Sandra Vertrauen zu einem Stammfreier, erzählt ihm ihre Geschichte. Der Freier bringt sie in die Beratungsstelle für Opfer von Frauenhandel des Fraueninformationszentrums (FIZ) in Zürich. Obwohl sie Angst hat, reicht Sandra eine Anzeige gegen ihre Cousine ein. Drei Jahre dauert das Verfahren, das Urteil: zehn Monate bedingt. Sandra habe die Arbeit bei der Cousine freiwillig getan - so begründet der Richter das milde Urteil. Während des Prozesses wird auch Sandras Mutter als Zeugin vorgeladen. Zurück in Brasilien, wird die Mutter erschossen, mutmasslich im Auftrag der Cousine. Beweise dafür gibt es nicht. Der Vater und die Geschwister von Sandra werden bei der Schiesserei schwer verletzt. Nach zahllosen Interventionen ihres Anwalts erhält Sandra eine Aufenthaltsbewilligung.

Typisch an Sandras Geschichte sind die völlig überhöhten Schulden als Druckmittel. Allein für die Vermittlung in die Schweiz sowie für Reise und Unterkunft müssen etliche der Frauen horrende Spesen zahlen - 20'000 Franken und mehr. Der Frauenhandel zählt heute neben dem Waffen- und Drogenhandel zu den lukrativsten Geschäften. Manchmal dürfen die Frauen einen kleinen Betrag für sich behalten. 20 oder 30 Franken am Tag, die sie nach Hause schicken, um ihre Kinder oder Eltern zu unterstützen. Eine perfide Methode der Zuhälter, die Frauen zu motivieren. Sie sind nicht nur Sexsklavinnen, sondern auch Schuldknechte.

Täter arbeiten in gut vernetzten Banden
Typisch an Sandras Geschichte ist auch, dass die Täter - Anwerber, Händler, Zuhälter, manchmal in einer Person vereint - häufig aus dem Familien- und Bekanntenkreis der Opfer stammen. «Ich verfüge über keine Beweise, wonach der Frauenhandel in der Schweiz mit der organisierten Kriminalität, mit der Mafia, verbunden ist. Das ist ein Mythos», sagt Peter Rüegger, Leiter des Kommissariats Ermittlung der Stadtpolizei Zürich. Oft sind es kleinere Gruppen oder Einzeltäter, allesamt untereinander gut vernetzt. Die Frauen werden von Gruppe zu Gruppe weiterverkauft, über Kantons- und Landesgrenzen hinweg. «Ich hätte hier ein paar knusprige Frauen für dich, nicht zu teuer, willst du?» Solche Sätze hört man in Polizeiaufnahmen von Telefongesprächen.

«Für die Täter ist es schnelles Geld und eine sichere Sache», sagt Rüegger. Die wenigsten werden entdeckt. Menschenhandel ist strafbar, trotzdem kam es bis Ende der neunziger Jahre und darüber hinaus nur selten zu Strafverfahren. «Frauenhandel und Zwangsprostitution waren sehr lange kaum ein Thema bei den Strafbehörden», sagt Rüegger. «Wir stossen nur langsam in das Dunkelfeld vor.» In Zahlen ausgedrückt: durchschnittlich 20 bis 50 Strafverfahren wegen Menschenhandels pro Jahr sowie etwa doppelt so viele Verfahren wegen «Förderung der Prostitution», also Fällen, in denen Frauen aufgrund ihrer ökonomischen Zwangslage ins Sexgewerbe gezwungen wurden. Nur selten kommt es tatsächlich zu Verurteilungen. Zwischen 1992 und 2006 wurden bloss 45 Personen wegen Menschenhandels verurteilt, meist zu milden Strafen - nichts, gemessen an den geschätzten 1500 bis 3000 Frauen, die jährlich als Opfer von Menschenhändlern in die Schweiz gelangen.

Das Problem ist, dass die Schweizerische Strafprozessordnung, im Gegensatz zur deutschen, kein Zeugenschutzprogramm kennt, das die Frauen auch nach dem Verfahren schützt, etwa durch eine neue Identität. Aus Angst vor Racheakten sind Opfer von Frauenhandel deshalb nur selten zu einer Anzeige oder Aussage bereit. «Häufig sind die Frauen massiven Repressalien ausgesetzt», sagt Rüegger. «Sie werden von den Tätern psychisch gebrochen. Ihr Vertrauen in andere Menschen und die Fähigkeit, die eigene Zukunft zu gestalten, sind zerstört.» Rüegger wundert sich nicht, wenn er von Opfern hört, die noch während des Verfahrens zu ihren Zuhältern zurückkehren. «Wer nicht geschult ist im Umgang mit traumatisierten Zeugen, kann solche Handlungen jedoch schnell missverstehen», sagt er. Häufig gehe die Justiz dann von einer gewissen Mitverantwortung des Opfers aus. Auch wieder so ein Mythos. «Die Folge davon sind zu milde Urteile», sagt Peter Rüegger.

Aussagen in traumatisiertem Zustand
Ob die Richter Susanna aus Polen glauben werden, ist offen. Susanna reiste mit einer Bekannten, die ihr Arbeit versprach, in die Schweiz. Die Bekannte verkaufte Susanna einem Schweizer Zuhälter. Der zwang die Polin zur Prostitution, setzte sie mit Gewalt und mit Schulden unter Druck. Erst musste sie auf den Strassenstrich, später brachte der Zuhälter sie in seine eigene Kontaktbar. Den Kunden durfte sie keinen Wunsch abschlagen, auch Sex ohne Kondom nicht. Während einer Razzia wurde Susanna aufgegriffen. Die Polizei begann gegen den Zuhälter zu ermitteln und nahm ihn kurz darauf fest. Als die junge Frau dem Untersuchungsrichter ihre Geschichte erzählen sollte, brachte sie vieles durcheinander. Ihre Geschichte hat Lücken, verdrängte Erlebnisse, die zu schmerzhaft sind. Die Anwälte des Angeklagten stellten Susannas Glaubwürdigkeit in Frage. Das Verfahren läuft noch.

Seit April 2007 werden am Schweizerischen Polizei-Institut Lehrgänge zum Thema Menschenhandel durchgeführt. Die Polizisten lernen dort, dass eine Geschichte wie die von Susanna - voller Widersprüche und Lücken - nicht unbedingt unglaubwürdig ist, sondern Zeichen eines Traumas sein kann. Auch für Staatsanwälte und Untersuchungsrichter sind solche Kurse geplant. «Wir stehen noch ganz am Anfang», sagt Boris Mesaric, Geschäftsführer der Koordinationsstelle gegen den Menschenhandel und Menschenschmuggel beim Bundesamt für Polizei. Nebst Aus- und Weiterbildung wirkt die Koordinationsstelle in den Kantonen auch an sogenannten runden Tischen mit, wo sich Polizei, Justiz und Opferberatungsstellen in Zusammenarbeit üben und ihr Wissen austauschen.

Ob Frauen wie Susanna als Opfer erkannt werden, hängt ganz davon ab, in welchem Kanton sie mit den Behörden in Kontakt kommen. «In vielen Kantonen ist die Situation noch sehr unbefriedigend. Zu wenig Kooperation untereinander, zu wenig Spezialisten für Frauenhandel, zu wenig Sensibilisierung», sagt Mesaric. Wo Opfer nicht erkannt werden, findet auch keine Strafverfolgung statt. Tatsächlich kam es bisher nur in jenen neun Kantonen zu Verfahren wegen Frauenhandels, in denen ein runder Tisch besteht.

Im Kampf gegen den Frauenhandel wirkt die Schweiz wie jemand, der eben aus dem Schlaf gerissen wurde: unkoordiniert, ungelenk. Und unmotiviert - vor allem wenn es darum geht, die betroffenen Frauen als Opfer anzuerkennen und zu schützen, anstatt sie wegen fehlender Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung oder wegen illegaler Einreise als Täterinnen zu bestrafen und sie so schnell wie möglich abzuschieben. In Italien zum Beispiel wird den Opfern von Frauenhandel, wenn sie ihre Situation glaubhaft darlegen, ein Aufenthaltsrecht erteilt. Seit 2005 gibt es die Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Menschenhandel, die den Opferschutz ins Zentrum stellt. Die Vertragsstaaten dürfen den Schutz nicht davon abhängig machen, ob die betroffenen Frauen in einem Strafverfahren aussagen. Die Schweiz hat die Konvention nicht ratifiziert. Wenn hier eine betroffene Frau nicht mit den Behörden kooperiert, muss sie in ihr Land zurückkehren. So will es das neue Ausländergesetz. Ist sie bereit, als Zeugin auszusagen, darf sie bleiben, jedoch nur bis zum Ende des Verfahrens. In Härtefällen - falls eine Frau in ihrem Herkunftsland nicht mehr sicher ist - kann eine langfristige Aufenthaltsbewilligung erteilt werden. 2006 erhielten gerade mal drei Frauen eine solche Bewilligung.

Racheakte gegen die Familie
«Wenn man sie nicht mehr benötigt, werden sie fallengelassen. Was haben die Frauen denn davon, auszusagen? Ausser dass sie noch gefährdeter sind, weil sie die Täter verraten haben.» Für Doro Winkler, beim FIZ für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, ist das neue Ausländergesetz stossend, weil es nicht die Opfer schützt, sondern den Bedürfnissen der Justiz dient. Zusammen mit 25 anderen Organisationen lancierte das FIZ die Kampagne «Euro 08 gegen Frauenhandel», um die internationale Fangemeinde über Zwangsprostitution aufzuklären. Teil der Kampagne ist eine Petition, die für die betroffenen Frauen das Bleiberecht fordert, auch wenn sie nicht als Zeuginnen auftreten wollen.

In der Beratungsstelle für Opfer von Frauenhandel des FIZ hört Doro Winkler immer wieder von Racheakten gegen Frauen oder ihre Familien. Von Molotowcocktails, die in Wohnungen geschmissen werden, von brennenden Autos und gekappten Bremsleitungen, von Beschattern, die ganze Familien terrorisieren. «Ein Drittel der rund 170 Frauen, die 2006 zu uns kamen, hatte den Mut auszusagen. Es wären noch mehr, wenn die Frauen die Garantie hätten, zu ihrem Schutz in der Schweiz bleiben zu können», sagt Winkler.

Die Behörden befürchten, dass ein Rechtsanspruch der Opfer auf eine langfristige Aufenthaltsbewilligung missbraucht werden könnte. Schon wieder so ein Mythos. «Selbst wenn ein Anspruch auf Aufenthalt bestünde, würden die Behörden jeden einzelnen Fall sehr genau prüfen. Ausserdem möchten die meisten Frauen in ihre Heimat zurück», sagt Winkler. «Dort haben sie Kinder, Geschwister, Eltern. Hier haben sie nichts.»

Die beschriebenen Frauenschicksale stammen aus der Praxis der Beratungsstelle für Opfer von Frauenhandel des Fraueninformationszentrums (FIZ), Zürich.