Seit drei Stunden jagen wir durchs Laggintal, um einen Schmetterling zu fangen. Nicht einfach irgendeinen, sondern einen ganz bestimmten. Er ist klein, braun und so unauffällig wie ein Stück Holz im Wald. Er heisst Christs Mohrenfalter; man könnte vermuten, weil er sich so häufig zeigt wie der Messias seinen Jüngern. Mit anderen Worten: Wir jagen das Phantom unter den Schmetterlingen.

Es ist erst halb zwei Uhr nachmittags, aber die Zeit wird bereits knapp. Am blauen Himmel ziehen Wolken auf. Wenn die Sonne verschwindet, neigt sich der Tag unseres Mohrenfalters dem Ende zu. Bald wird er sich unter einem Stein oder unter einem Blatt zur Ruhe setzen, wie all seine Verwandten aus der Familie der Tagfalter. Losfliegen wird er am nächsten Tag wieder. Ralph Imstepfs Fangbewilligung gilt jedoch nur heute, an diesem heissen Julitag.

So hetzt der Biologe jedem Falter hinterher, der jetzt noch herumflattert. Er ist 39 Jahre alt und ein Walliser, wie man ihn sich vorstellt; kernig, gesellig – und eigensinnig. Hat er sich etwas in den Kopf gesetzt, will er es erreichen. Komme, was wolle. Oder eben nicht. Wie der Phantomfalter, hinter dem wir nun schon seit Stunden her sind.

Akrobatik am Steilhang

Die Schmetterlingsjagd ist eine akrobatische Angelegenheit: Mal springt Imstepf zwei Meter die Böschung hoch, mal zwei runter, mal dreht er Pirouetten um die eigene Körperachse, mal wirbelt er sein Fangnetz durch die Luft, als gäbe es hier, hoch über der rauschenden Laggina, keine Steilhänge, die er hinunterstürzen könnte. Es sieht aus wie eine Mischung von Ausdruckstanz und Kescherfischen.

Das Netz zischt durch die Luft, der nächste Schmetterling ist gefangen. Imstepf zieht den feinen Tüll vorsichtig heran. Falter begutachten, freilassen und wieder von vorn. 

Ohne Fangbewilligung wäre das höchst illegal. Wer im Laggintal nur schon ein Netz bei sich hat, wird bestraft. Seit 1985 steht das «Tal der Schmetterlinge» unter Schutz, sonst wären hier an einem Tag wie heute Schmetterlingsjäger aus ganz Europa unterwegs. Für sie ist das Laggintal so etwas wie Namibia für Grosswildjäger. Gelobtes Land. 

Überhaupt, das ganze Wallis: In der Schweiz gibt es 190 Tagfalterarten, die wir landläufig Schmetterlinge nennen. 170 davon sind im Bergkanton zu finden. Die Höhenlagen der Walliser Alpen sind mediterran bis hochalpin, einladend für Arten, die sich auch in Südfrankreich oder Skandinavien wohl fühlen. Und wenn ein Tal so abgeschottet ist wie das Laggintal, können Arten entstehen, die sonst nirgends zu finden sind: unser Christs Mohrenfalter etwa.

Ewiger Ruhm im Insektennamen

«Erebia christi», präzisiert Imstepf, als wir nach zehn Uhr morgens in Simplon Dorf losfahren. Wie alle Biologen verwendet er lieber den lateinischen als den deutschen Namen. Wie August Rätzer, der den Falter 1882 entdeckt, beschrieben und nach Hermann Christ benannt hat. Christ war ein Basler Jurist, der sich als Hobbybotaniker einen Namen gemacht hat. In 80 Jahren verfasste er über 300 Arbeiten zur Pflanzengeografie und zur Geschichte der Botanik, viele sind bis heute Klassiker.

Im 19. Jahrhundert drangen nicht nur die Alpinisten in unerforschte Gebiete vor, damals wurde auch der Eroberungswille im Kleinen erfunden: Naturforscher begaben sich auf die Suche nach Pflanzen oder Schmetterlingen, in deren Namensgebung sie sich oder einander ebenso unsterblich machen konnten wie die Bergsteiger mit der Bezwingung schwindelerregender Gipfel.

Ralph Imstepf kann man als modernen Vertreter dieser Bewegung bezeichnen. «Ich war immer gern ‹vorn›», erzählt er, während wir die steile Passstrasse hochkurven. «Vorn» kommt von «vor der Port», was so viel bedeutet wie «vor der Tür». Es ist ein Walliser Synonym für draussen sein. Das war Imstepf schon als Bub am liebsten. Er machte Vogel-Erkundungstouren, später begann er sich für Schmetterlinge und andere Insekten zu interessieren. «Während andere Panini-Bildchen angeschaut haben, war ich mit dem Netz unterwegs», erzählt er. 

Das Biologiestudium war eine logische Konsequenz. Heute kann Imstepf die Falter schon von weitem erkennen. Kaum erspäht er einen grossen Schmetterling, hält er ihn auch schon in den Händen: «Ein Grosser Schillerfalter, aus der Familie der Edelfalter.»

Der Schmetterling ist von dramatischer Erscheinung, gross, irisfarben, weisse Tupfen. «Schön?», fragt Imstepf und zuckt mit den Schultern. Schön ist für ihn, was so selten und flüchtig ist wie Christs Mohrenfalter. Erst einmal hat er ihn gesehen, in den Neunzigern, hier im Laggintal. Seither ist er ihm nie wieder begegnet. Das hat auch damit zu tun, dass der Falter nur während dreier Wochen pro Jahr unterwegs ist, irgendwann zwischen Mitte Juli und Mitte August, je nach Wetter. Und zwar nur hier im Laggintal, wo sich sein Lebensraum auch nur auf ein paar gelbe Punkte auf Imstepfs Verbreitungskarte beschränkt. Sie liegen an den südöstlichen Hängen, die besonders steil und felsig sind.

Strassenbau vernichtet Insektenarten

«Früher war das hier bloss ein Flurweg», sagt Imstepf, «in den Achtzigern wurde beim Bau der Strasse jedoch der ganze Schutt den Hang hinabgekippt.» Dabei sind ganze Schmetterlingspopulationen verlorengegangen, wie überall, wo die Zivilisation den Lebensraum zerschneidet oder die Landwirtschaft intensiviert wird. Dafür kommen infolge des Klimawandels neue Arten aus dem mediterranen Raum dazu.

Imstepf hält Ausschau nach einer Pflanze namens Schafschwingel. Entdeckt man sie, entdeckt man vielleicht auch Christs Mohrenfalter. Denn als Raupe ernährt er sich von den Blättern dieser pilzförmigen Büsche, und später legt er seine Eier darauf. Imstepf hat sie jedoch noch nicht erspäht. Dafür tanzen vor ihm ein paar braune Schmetterlinge über dem Asphalt. Wusch, schon ist der erste gefangen. Zu seinem eigenen Schutz muss der aufgeregte Falter in eines der mitgebrachten Urinprobengläschen. «Die Tagfalter beruhigen sich, wenn es dunkel ist», sagt Imstepf, «dann können wir ihn gut bestimmen.» Also macht er den Deckel zu und steckt das Gläschen in die Hosentasche. 

Tatsächlich: ein Mohrenfalter. Aber kein Christi. Obwohl der Schmetterling im Glas ebenso braun ist, ebenso klein und einen ebenso orangen Farbstreifen auf den Flügeln hat, in dem schwarze Kreise sind, sogenannte Augen, die wiederum weisse Punkte in ihrer Mitte haben. Der Biologe schlägt das Fachbuch auf: Es gibt etwa 50 Schwärzlinge, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Aber nur der Christi hat im obersten Auge immer einen schwarzen Punkt. Das ist es, wonach wir suchen.

Im Jagdfieber

Weiter also. Im heissen Sommerwind durch das Tal, in dem die Schmetterlinge jetzt wie Moskitos in Schwärmen tanzen. Aus ein paar Metern Distanz sehen sie aus wie eine bunte Videoinstallation von Pipilotti Rist. Christs Mohrenfalter hin oder her, allein für diese Bilder lohnt sich die Reise ins Tal der Schmetterlinge schon.

«Es ist viel los», stellt auch Imstepf fest, der jetzt im Jagdfieber ist und nicht mehr viel redet. Dafür fängt er einen Schmetterling nach dem anderen. Grosse, kleine, grellbunte, gepunktete, gestreifte, leuchtende, matte, schöne, langweilige, hysterische. Sie haben lustige Namen wie Apollofalter, Braunscheckauge, Darwins Weidenröschen. Auch Mohrenfalter sind eine Menge dabei, von Erebia melampus über Erebia tyndarus bis zu Erebia euryale. Aber kein Christi. Immer noch nicht.

Zwei Stunden später sitzen wir erschöpft im Schatten der Lärchen am Fluss. Imstepf öffnet eine Flasche Weisswein. Er hat ihn mitgenommen, weil man anstossen muss, wenn man den ersten Christi findet, so will es der Brauch. Jetzt trinken wir halt auf das Wohl des raren Falters. «Santé», sagt Imstepf und beginnt, vom Sinn der Jagd zu erzählen. 

Im Grunde geht es ihm mehr um das Suchen als das Finden, wenn er bis nach Kirgisien oder in den Iran reist, im Wissen, dass es dort Schmetterlingsarten gibt, die vielleicht noch kein Mensch kennt. Es ist auch eine Suche nach dem Sinnbild für die Leichtigkeit des Lebens. Sommer. Wärme. Ein Versprechen der Transformation. «Schönheit», sagt Imstepf, «ist eine Mischung aus Seltenheit und Erlebnis.» Je rarer ein Schmetterling, desto grösser das Geheimnis, desto schöner das Erlebnis. Am Ende des Tages sind wir froh, dass der Christi für uns ein Phantom bleibt. Vorerst.

Vom Stockalperweg zum Laggii-Höhenweg

Bei Gabi beginnt der Aufstieg auf dem geschichtsträchtigen Stockalperweg (600 Höhenmeter) zum Passübergang Furggu. Von dort geniesst man einen wundervollen Blick zurück ins Simplontal. Nach weiteren 200 Metern Aufstieg öffnet sich das Laggintal. Auf dem Höhenweg beeindruckt der Anblick des Lagginhorns und des Weissmies mit ihren steilen Flanken und hängenden Gletschern.

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