200 Schweizerinnen und Schweizer sind in den Nazi-Konzentrationslagern gestorben. Christen, Jüdinnen, Ungläubige. Die Schweiz ignorierte ihre eigenen Opfer jahrzehntelang. Wer als neutraler Schweizer in einem KZ gelandet sei, müsse etwas verbrochen haben, glaubten viele.

Das will der Verein Stolpersteine Schweiz ändern. An zahlreichen Orten in der Schweiz sollen die Opfernamen aufscheinen, eingraviert in goldene Messingtafeln. So wie in 26 anderen Ländern Europas. Die Stadt Zürich macht den Anfang mit sieben kleinen Gedenksteinen, die ins Trottoir eingelassen sind.

Vergebliche Bitten

Denise Schmid wohnt der Steinlegungszeremonie mit feuchten Augen bei. «Meine Tante Lea und mein Cousin Alain hatten nie einen Grabstein oder ein Grab. Ihr Stolperstein wird als Einziges an sie erinnern.» Ihre Tante Lea Berr-Bernheim ist 1944 im Vernichtungslager Auschwitz umgekommen zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn Alain. Die Zürcherin wohnte nach ihrer Heirat in Frankreich. Weil sie einen Franzosen zum Mann nahm, verlor sie ihre Schweizer Staatsbürgerschaft.

Ihre Eltern baten die Schweizer Behörden während des Krieges mehrmals, Tochter Lea und Enkel Alain aus Frankreich einreisen zu lassen. Vergeblich. Ein Beamter antwortete der Schweizer Mutter per Brief an die Clausiusstrasse 39 in Zürich, dass «eine Reise nach der Schweiz für sie nicht in Frage kommen könne» (siehe Dokument).

Das banale Zwei-Satz-Schreiben war ein Todesurteil für die Zürcher Jüdin und ihren kleinen Sohn. Daran sollen die zwei Stolpersteine vor dem elterlichen Wohnhaus an der Clausiusstrasse erinnern. «Es ist wichtig, dass die nächste Generation das nicht vergisst», sagt Denise Schmid.

Stolpersteine

Die Stolpersteine in Zürich zum Gedenken an Lea Berr-Bernheim und ihren zweijährigen Sohn Alain, beide von den Nazis ermordet.

Quelle: Yves Demuth
Behörden mit wenig Wohlwollen

Der Verein Stolpersteine Schweiz will den Opfern ein Gesicht geben. «Weil nur in Erinnerung bleibt, was wir uns in Erinnerung rufen.» Der emeritierte Geschichtsprofessor Jakob Tanner, Mitglied des Vereinsvorstands, hofft auf lokale Initiativen in anderen Städten. So soll eine Art Gedenkstätte entstehen für die «vergessenen Schweizer Opfer», über die der Beobachter bereits vor drei Jahren berichtete.

Die Behörden behandelten Schweizer Nazi-Opfer oft mit wenig Wohlwollen. Lea Berr-Bernheim war für sie eine Fremde. Bern lehnte ihre Einreise ab, obwohl sie Schweizerdeutsch sprach, in Zürich zur Schule gegangen war, sich am Paradeplatz in der Parfümerie Oswald von der Verkäuferin bis zur stellvertretenden Geschäftsführerin hochgearbeitet hatte. Obwohl Lea Bernheim und ihr Sohn Alain bei den Zürcher Eltern hätten wohnen können.

«Mit seinen grossen blauen Augen hat er Erfolg, so blaue wie seine Kittelchen, die Du Mutti gesandt hast.»

Aus einem Brief von Lea Berr an ihren Bruder in der Schweiz

Am 28. Februar 1944 holte die Gestapo die Familie Berr-Bernheim an ihrem Wohnort in Frankreich ab. Lea Berr war erst 29 Jahre alt. Der kleine Alain «konnte noch nicht alleine auf den Lastwagen steigen, als sie ihn deportierten», erzählte Leas Bruder mit tränenerstickter Stimme 2008 einer Schweizer Historikerin. Er hatte seine Schwester 1939 zuletzt gesehen.

Das Schicksal seiner Schwester holte ihn kurz vor seinem Tod 2010 wieder ein. Er weinte oft. Und las immer wieder ihre Briefe in die Schweiz: «Uns geht es gut, Alain nimmt regelmässig zu. Mit seinen grossen blauen Augen hat er Erfolg, so blaue wie seine Kittelchen, die Du Mutti gesandt hast; seine Haare wachsen, sie sind ganz blond und fein wie Seide. Wir sind so froh, ihn zu haben. Wir denken immer an Euch meine Lieben und freuen uns so sehr auf das Wiedersehen, welche Freude für uns alle und Ihr werdet ein grosses Enkelkind haben.»

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