Eigentlich hatte Michael Räber im August letzten Jahres bloss seine Ferien in Griechenland geniessen wollen. Doch die Reise öffnete ihm die Augen. Er war schockiert über das Flüchtlingselend in Athen und beschloss zu handeln. In zwei Tagen hatte er sein Leben neu organisiert und sich mit seiner Frau abgesprochen. Er hängte seinen Job als IT-Spezialist an den Nagel, lancierte mit einem Bekannten das Minihilfswerk schwizerchrüz.ch und reiste auf die Insel Lesbos, um zu helfen.

Seitdem unterstützt er gestrandete Menschen vor Ort, packt sieben Tage die Woche dort an, wo es ihn am meisten braucht. Über hundert weitere Freiwillige hat er bereits nach Griechenland geholt, die ihn bei der Arbeit unterstützt haben. Wenn Räber Flüchtlinge aus dem eiskalten Meer an Land trägt, weiss er, dass er das Richtige tut. «Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, muss ich handeln», sagt der Berner. Auch wenn er für seinen Einsatz einen hohen Preis zahlt: Seit einem Jahr ist er pausenlos unterwegs, schläft schlecht und träumt von ankommenden Booten und ertrunkenen Kindern.

«Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, muss ich handeln.»

Michael Räber, Gewinner Prix Courage 2016

 

Der Prix Courage wurde am Freitagabend bereits zum 19. Mal verliehen. «Die Schweiz braucht Leute, die handeln, wo Zuwarten andere gefährdet. Menschen, die laut werden, wo Schweigen Unrecht verdeckt. Die ehrlich sind, wo lügen leichter fiele», umschreibt Andres Büchi, Chefredaktor des Beobachters, die Idee hinter dem Preis für besonders mutiges und engagiertes Handeln. Michael Räber sei so ein Mann, einer, der handelt, wo Menschen leiden. Im Zürcher Zunfthaus zur Saffran durfte er deshalb den Beobachter Prix Courage 2016 entgegennehmen.

 

Für den Prix Courage können die Leserinnen und Leser des Beobachters ihr Votum abgeben. Unabhängig und ohne Wissen um diesen Entscheid, berät die Jury unter Leitung von Ständerätin Pascale Bruderer über die Kandidaturen. Beide Voten werden gleich stark gewertet. Am Ende ging Michael Räber als Preisträger hervor. 

Der Entscheid sei zugunsten von jemandem gefallen, dem irgendwann im vergangenen Jahr Gedanken durch den Kopf gingen, die uns allen bekannt vorkämen – ‚Das kann doch nicht sein. Nicht in der heutigen Zeit, nicht im zivilisierten Europa’ – sagte Jury-Präsidentin Pascale Bruderer in ihrer Laudatio. «Michael Räber hat es getan. Und er tut es noch. Das, was wir gelegentlich finden, sollte oder könnte oder müsste man tun», so Bruderer.

Richtige Antworten zu finden auf die Flüchtlingskrise sei nicht einfach. Aber den gestrandeten Menschen zu helfen, die in notdürftigen Lagern mindestens temporär Unterstützung brauchen, sei unabhängig von der Komplexität des Problems wichtig. «Ankömmlinge sind unter menschenwürdigen Bedingungen unterzubringen und mit dem Nötigsten zu versorgen, bis ihr Asylentscheid im Erst-Ankunftsland geprüft worden ist. Das erfordert mehr als grosse Worte, es verlangt entschlossenes Handeln und hohen Einsatz», wie die Jurypräsidentin sagt.

«Ein besonders leuchtendes Beispiel für zivilcouragiertes Handeln.»

Andres Büchi, Chefredaktor

 

Jedes Jahr prüft die Redaktion des Beobachters Vorschläge aus der Leserschaft, sichtet unzählige Berichte über mutige Taten und unerschrockenes Handeln. Diese zu werten sei weder für Jury noch für die Leserschaft leicht, erklärt Büchi. «Alle neun Kandidaten haben Herausragendes geleistet – die Nomination zum Prix Courage ist eine verdiente Auszeichnung dafür.» Aber die Konsequenz, mit der Michael Räber seiner inneren Stimme gefolgt sei, mit der er sein eigenes Leben umgestellt habe, um andern zu helfen, mache seine Tat in diesem Jahr zu einem «besonders leuchtenden Beispiel für zivilcouragiertes Handeln», so der Chefredaktor.

Interview mit Michael Räber: «Für mich ist der Preis ein Zeichen»

Beobachter: Sie sind für die Preisverleihung in die Schweiz gereist. Wann geht es wieder zurück nach Griechenland?
Michael Räber: In drei Tagen. Zuerst kaufe ich in Griechenland Wintersachen wie Heizdecken und Schlafsäcke. Danach fliege ich nach Izmir in der Türkei. Dort leben Flüchtlinge in Slums – in Hütten aus Holz und Wellblech neben den Feldern, auf denen sie arbeiten. Ihnen bringen wir Holzheizungen und Lebensmittel.

Beobachter: Warum helfen Sie mittlerweile auch in der Türkei?
Räber: Die Überfahrt nach Europa ist lebensgefährlich – vor allem jetzt. Ich will möglichst vermeiden, dass Flüchtlinge in überfüllte Gummiboote steigen.

Beobachter: Vor einem Jahr sagten Sie, dass Sie noch drei Monate weitermachen. Jetzt sind Sie immer noch vor Ort. Warum?
Räber: Es braucht ehrlich gesagt mehr Mut, aufzuhören als anzufangen.

Beobachter: Wie meinen Sie das?
Räber: Ich fände es enorm schwierig, die Flüchtlinge in den schlimmen Lagern und Camps, die ich so gut kenne, ihrem Schicksal zu überlassen. Das lässt mein Verantwortungsgefühl fast nicht zu. Dasselbe sagen viele andere Flüchtlingshelfer: Fast niemand will am Schluss zurück nach Hause fliegen.

Beobachter: Trotzdem haben Sie entschieden, kommenden Frühling aufzuhören.
Räber: Im April kommt mein Sohn zur Welt. Mindestens das erste Jahr seines Lebens will ich mit ihm und meiner Frau zu Hause in Kiesen verbringen. Aber von Aufhören ist keine Rede: Ich kann gut von der Schweiz aus die Fäden ziehen und Helfer vor Ort organisieren.

Beobachter: Wie schwierig wird der Wechsel für Sie sein?
Räber: Sagen wir es so: Der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch ans Delegieren.

Beobachter: Was bedeutet für Sie der Prix Courage?
Räber: Für mich ist der Preis ein Zeichen. Es war richtig, dass letztes Jahr Hunderte Schweizerinnen und Schweizer aufgebrochen sind, um in den Balkanländern und in Griechenland Flüchtlingen in Not zu helfen.