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Am 25. Oktober 2005 stürmen 15 bewaffnete Polizisten nachts die Wohnung der Familie Kolic in Wiesen GR. Mutter Rafeta und die fünf Kinder im Alter zwischen 6 und 16 Jahren werden aus dem Schlaf gerissen und abtransportiert. Frühmorgens sitzen sie in einem Flugzeug Richtung Kosovo. Zurück bleibt der verzweifelte Vater Selman.

Reto Dürst, parteiloser Gemeindepräsident im Nebenamt, ist entrüstet über die nächtliche Ausschaffungsaktion der Fremdenpolizei: «So geht man nicht mit Menschen um.» Selman Kolic kam vor 19 Jahren als Saisonnier in die Schweiz. Vor sechs Jahren holte er seine Familie nach Wiesen. Doch sein Antrag auf Familiennachzug wird abgewiesen. Begründung: Sein Einkommen sei zu tief und die Wohnung zu klein. Dass deshalb eine Familie auseinandergerissen wird, ist für Dürst unverständlich: «Die Kolics sind in unserem Dorf voll integriert und finanziell unabhängig.»

Ein paar Tage später reist Dürst auf eigene Faust in den Kosovo. «Als ich sah, unter welchen Bedingungen Rafeta und die Kinder leben mussten, setzte ich mir das Ziel, sie mit allen möglichen legalen Mitteln zurückzuholen», erinnert sich der 46-jährige Leiter einer Versicherungsagentur. Die Wohnung der Kolics erhält durch eine Trennwand ein zusätzliches Zimmer. Und Vater Kolic findet in der Gemeinde eine neue Stelle als Schulhausabwart, bei der er genug verdient, um die gesetzlichen Vorschriften zu erfüllen. Als ehemaliger Eishockeyprofi nutzt Dürst zudem seine Kontakte zur Presse und sorgt dafür, dass die Ausgeschafften im Kosovo nicht vergessen werden, bis sie nach fünf Monaten wieder in die Schweiz zurückkehren können.

Nebst vielen positiven Reaktionen gibt es auch Kritik und Anfeindungen. Dürst bereut sein privates Engagement aber nicht: «Klar müssen Gesetze eingehalten werden, aber in diesem Fall war es schlicht unmenschlich, auf Paragrafen herumzureiten.»

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Am Morgen des 1. Dezembers 2005 sieht die achtjährige Léonie die Hunde kommen. Aus dem Schlafzimmer beobachtet sie, wie draussen der kleine Süleyman um sein Leben läuft. Sie alarmiert ihre Mutter. «Mami, da wird ein Kind von ganz vielen Hunden angegriffen.»

Mutter Francesca van Capelle zögert keinen Augenblick, stürzt in den Finken aus ihrem Haus in Oberglatt ZH, um dem Knaben zu Hilfe zu eilen. Überall liegt Schnee. Sie rutscht, wirft ihre Finken weg, läuft barfuss weiter. Verzweifelt sucht sie schon unterwegs nach Steinen oder nach einem Ast. Sie schreit die drei Pitbulls an, die über den Knaben hergefallen sind: «Aus, pfui, weg.» Doch die Kampfhunde reagieren erst, als Francesca van Capelle versucht, den sechsjährigen Knaben an den Füssen zu packen und ihn wegzuziehen. Nun zeigen die blutverschmierten Kampfhunde ihre Zähne und gehen in Angriffsstellung über. Die 41-jährige Mutter von zwei Töchtern muss sich zurückziehen. Sie läuft zur nächstbesten Tür, stolpert über die Schwelle, bricht sich Zehen und Arm. Inzwischen beobachten mehrere Leute den schrecklichen Vorfall, aber ausser Francesca van Capelle wagt es niemand einzugreifen.

Unterdessen hat Tochter Léonie selbstständig die Polizei alarmiert. Sie weint am Telefon. Doch jede Hilfe kommt zu spät: Der Knabe stirbt an den Hundebissen. Später muss ihre Mutter den Armbruch zwei Mal operieren lassen. Doch darüber mag diese sich nicht beklagen. «Dass ich dem Knaben nicht mehr helfen konnte, war sehr schlimm für mich», sagt sie. Ihr Handeln empfindet sie als selbstverständlich: «Ich kann nicht wegsehen, wenn etwas passiert.»

Seit kurzem hat sich die Familie trotz allem einen lang gehegten Wunsch erfüllt und einen jungen Hund zugetan: Kyara, ein Wolf-Spitz-Mischling. «Der Hund hilft uns, über das Trauma hinwegzukommen», sagt Mutter Francesca. Zuerst musste Tochter Léonie in einer Hundeschule wieder lernen, ohne Angst auf Hunde zuzugehen.

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Donnerstag, 8. Dezember 2005, 15.52 Uhr: Der Zug aus Richtung Au ZH fährt in Horgen ein. Daniel Bürkli, zwölfjährig, steigt aus. Auf dem Perron schreien die Leute: «Aufhören, seid ihr verrückt geworden!» Daniel sieht, wie ein Mann einem andern das Messer nahe dem Auge in den Kopf rammt. Es folgen Stiche in den Bauch und - als das Opfer fliehen will - auch in den Rücken. Doch von den rund 30 Personen auf dem Perron hilft keiner dem Angegriffenen, der nach dem letzten Stich zu Boden geht.

Daniel rennt zum Verletzten und hilft ihm wieder auf die Beine. «Bitte bring mich zum Arzt», sagt der stark blutende Mann und nennt ihm die Adresse. Daniel stützt ihn, zusammen erreichen sie 15 Minuten später die Arztpraxis - eine Distanz, die man normalerweise in fünf Minuten bewältigt. Das Opfer hat bereits viel Blut verloren.

Daniel ist wie in Trance. Gleichwohl macht er sich auf den Heimweg nach Au. Zu Hause wartet bereits sein Kollege Michael auf ihn; die beiden wollen ins Fussballtraining. Rund eine Viertelstunde nimmt Daniel seinen Freund nicht wahr. Er fühlt sich schlecht. Trotz allem besuchen sie das Training. Erst nachher fordern die Ereignisse des Nachmittags ihren Tribut. Daniel findet keinen Schlaf. Nickt er doch ein, wecken ihn Angstträume. Am nächsten Tag befragt ihn die Polizei - neue Angstschübe sind die Folge. Den Bahnhof Horgen meidet Daniel: «Dort kommen die Ereignisse wieder hoch», sagt er.

Eine Woche später kann der Junge das Opfer im Spital besuchen. Das beruhigt ihn. Denn trotz den ernsthaften Stichwunden erholt sich der Mann gut. Daniel erfährt auch, dass seine Hilfe absolut nötig, wahrscheinlich sogar lebensrettend war: Einer der Messerstiche hatte die Lunge verletzt. «Ich würde wieder helfen», sagt Daniel. Doch eine Enttäuschung bleibt: «Warum haben die vielen Erwachsenen nicht geholfen? Meine Eltern haben mir immer gesagt, man müsse Menschen in Not beistehen.»

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Es ist die Nacht auf den 1. Mai 2005, eine Freinacht für die Dorfjugend aus dem bernischen Roggwil. Wie jedes Jahr, wenn die 19-jährigen Burschen eine geschmückte Maitanne aufstellen, auf der die gleichaltrigen Mädchen aus dem Dorf mit einem Namensschild geehrt werden. Aber wie schon in den drei Jahren zuvor fehlen die ausländisch klingenden Namen. Stattdessen weht zuoberst eine Schweizer Fahne, und die Namen sind in Frakturschrift geschrieben.

Priska Grütter, eine der «Geehrten», stört sich heftig an der Aktion: «Diese Maitanne ist ein Symbol für die Ausgrenzung der ausländischen Mädchen.» Sie hängt deshalb gemeinsam mit einer Kollegin fünf zusätzliche Namensschilder an die Maitanne: Balaswissney, Florentina, Hadzere, Shiela und Erna. Doch einer der «Stellbuben» reisst die fünf Schilder wieder ab. Die Aktion der jungen Frauen gibt im Dorf zu reden. So viel, dass Priska Grütters Kollegin nicht mehr mitmachen mag.

Dafür kommt Janine Meier als neue Verbündete hinzu. Für die zwei jungen Frauen ist klar: «Wenn wir unsere Namensschilder dort hängen lassen, signalisieren wir, dass wir mit dieser rassistischen Aktion einverstanden sind.» Die beiden versuchen deshalb, ihre Schilder herunterzuholen. Als dies nur Janine gelingt, finden sie eine andere Lösung: Sie binden einen Pinsel an eine Dachlatte und übermalen Priskas Schild und die mittlerweile schon wieder aufgehängte Tafel von Janine. Der couragierte Einsatz gegen Fremdenfeindlichkeit gefällt nicht allen im Dorf: «Es gibt Leute, die mich bis heute nicht grüssen», sagt Priska Grütter. Janine Meier erhielt gar eine Morddrohung.

Daraufhin handelte die Gemeinde Roggwil, wo bei den letzten Grossratswahlen die weit rechts stehende Partei National Orientierter Schweizer einen Wähleranteil von 4,2 Prozent erreichte. Die Behörde beschloss Regeln: An der Maitanne müssen alle Namen hängen oder gar keiner. Die «Stellbuben» verzichteten in diesem Jahr deshalb auf Namensschilder.

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Es ist eine schmutzige und laute Arbeit, die Lukas Klauser und Philip Lechner am renommierten Paul-Scherrer-Institut (PSI) in Villigen AG verrichten. Dass sie aber auch gesundheitsschädlich sein könnte, damit rechnen die Temporärarbeiter nicht. Doch beim Rückbau des ausgedienten Versuchsreaktors stossen die Männer auf Asbest. Als Klauser seinen Chef auf den Fund hinweist, wird er abgewimmelt. «Er schickte uns einfach wieder an die Arbeit, obwohl jedes Kind weiss, wie gefährlich Asbest ist», staunt der 22-Jährige noch heute. Der Baustoff verursacht Lungenkrankheiten und Krebs.

Auch der nächsthöhere Vorgesetzte will von Schutzmassnahmen nichts wissen: Es handle sich zwar um Asbest, doch reiche es, das Material mit Wasser zu bespritzen und dieselben Masken zu tragen wie sonst auch. Wenn Klauser dies nicht genüge, könne er ja gehen. Den Asbestfund melden, wie vom Gesetz vorgeschrieben, will der PSI-Mann nicht. Lukas Klauser und Philip Lechner holen Rat bei Klausers Onkel. Dieser kontaktiert die Pressestelle der Forschungsanstalt.

Zwei Wochen nach Entdecken des gefährlichen Stoffs und nachdem etliche Arbeiter teils monatelang damit gearbeitet haben, wird die Baustelle geschlossen. Erst auf Drängen des Anwalts der beiden jungen Männer werden Suva-konforme Messungen durchgeführt. Mit erschreckendem Ergebnis: Bis zu 66,2 Millionen Fasern pro Kubikmeter Luft wurden zeitweise freigesetzt. Der Grenzwert liegt bei 10'000 Fasern. Erst jetzt ergreift das PSI Schutzmassnahmen für die Temporären, die kurz darauf die Arbeit wieder aufnehmen. Alle, ausser Lukas Klauser und Philip Lechner - den zwei «Aufmüpfigen» hat das Temporärbüro gekündigt.

«Es ist peinlich, dass eine Bundesinstitution, die pro Jahr über 220 Millionen Franken Steuergelder bezieht, sich so schäbig verhält», ärgern sich die beiden noch heute. Sie haben gegen das PSI Strafanzeige wegen Gefährdung des Lebens eingereicht.

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Weil ich sonst meine Ideale verraten hätte», antwortet Christian Tanner, ehemaliger Revisor und stellvertretender Chef der Finanzkontrolle der Stadt Chur, auf die Frage, warum er gegen eine Vorlage des Churer Stadtrats auf die Barrikaden gestiegen ist. Die Vorlage betraf die Pensionskasse der meisten städtischen Angestellten: Sie sollten neu im Beitragsprimat statt im Leistungsprimat versichert sein - mit fatalen Folgen. Besonders langjährige Angestellte der Bündner Kantonshauptstadt hätten empfindliche Rentenkürzungen hinnehmen müssen. «Was für eine Ungerechtigkeit», sagt der 40-Jährige.

Der Stadtrat selbst mochte sich den Kürzungen nicht unterwerfen: Die Mitglieder der dreiköpfigen Exekutive wären von der Neuregelung nicht betroffen gewesen. Innert kurzer Zeit sammelt Tanner in der städtischen Verwaltung rund 600 Unterschriften gegen das Vorgehen des Stadtrats, in Politikerkreisen betreibt er Aufklärungsarbeit.

Mit Erfolg: Der Churer Gemeinderat weist die Vorlage zurück und gibt bei einem Pensionskassen-Experten ein Gutachten in Auftrag. Dieses bestätigt Tanners Kritik in weiten Teilen. Der Gemeinderat stimmt für eine Lösung, die die im Leistungsprimat und die im Beitragsprimat Versicherten gleichstellt. Rund sieben Millionen Franken lassen sich die Churer Parlamentarier diese Lösung kosten. Tanner erhält 400 Dankesbriefe.

Für den Stadtrat und besonders für den Stadtpräsidenten ist der Entscheid eine politische Niederlage. Stadtpräsident Christian Boner würdigt Tanners Engagement auf ganz eigene Weise: mit dem blauen Brief. Tanner habe, so schreibt der SVP-Mann im Kündigungsschreiben, in seiner Kritik «den Rahmen des Zulässigen gesprengt» und die «allenfalls noch akzeptablen Grenzen überschritten». Tanner hat die Kündigung angefochten und gibt sich unbeirrt: «Ich versuche meinen Kindern ein Vorbild zu sein und halte auch sie dazu an, gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen. Ich würde wieder genauso handeln.»