Frage von Esther F.: «Seit die Kinder fort sind, arbeite ich Teilzeit. Auf mich ist immer Verlass, aber ich träume stets dasselbe Muster: Ich komme nicht rechtzeitig ans Ziel, verfahre mich oder verpasse den Bus. Ich male mir die Folgen davon aus – der absolute Horror. Schweissgebadet wache ich auf. Was bedeutet dieser Traum?»

Es wäre unseriös, Ihren Traum auf Distanz endgültig zu deuten. Eine wirksame Auslegung sollte immer in Zusammenarbeit mit der träumenden Person entstehen, weil manche Symbole eine ganz individuelle Bedeutung haben. Trotzdem wage ich eine Interpretation, die Ihnen als Anregung dienen kann.

Es sind in der Hauptsache zwei Bilder, die Ihren quälenden Traum prägen: das Ziel verfehlen und sich verirren. Aus der ersten Situation ergibt sich die Frage, ob Sie in Ihrem Leben vielleicht ein Ziel anstreben, das zu hoch ist oder schlecht zu Ihnen passt. Ihre Bemerkung, es sei immer auf Sie Verlass, könnte auf eine Tendenz zu übermässigem Perfektionismus hindeuten. Die Lektion hiesse also: Lassen Sie auch mal fünf gerade sein. Es ist keine Katastrophe, wenn nicht alles perfekt ist.

Das Verirren könnte ebenfalls darauf hindeuten, dass Sie – auch im Leben – auf dem falschen Weg sind. Überprüfen Sie, ob Ihre neue Lebensgestaltung wirklich Ihren innersten Bedürfnissen entspricht. Der Traum spiegelt im Grunde eine Überforderungssituation, nach der Sie suchen und die Sie beseitigen sollten, um wieder ruhiger zu träumen. Natürlich kann Ihnen eine Fachperson dabei helfen.

Wenn die Seele Bilder produziert

Die Arbeit mit Träumen gehört seit Sigmund Freud zu den klassischen Geschäften der Psychotherapeuten. Vor 110 Jahren veröffentlichte er sein bahnbrechendes Werk «Die Traumdeutung». Er war überzeugt, den «Königsweg zum Unbewussten» gefunden zu haben, einen Zugang zu verborgenen Bereichen der Persönlichkeit. Während er betonte, der am Morgen erinnerte Traum sei zensuriert und seine wirkliche versteckte Bedeutung müsse erst ans Licht gehoben werden, war sein Schweizer Schüler C. G. Jung der Meinung, die Bedeutung eines Traums würde sich schon an der Oberfläche in den Bildern zeigen. Träume haben seiner Ansicht nach oft den Sinn, den Träumer auf ein seelisches Ungleichgewicht hinzuweisen.

Ob Träume tatsächlich eine seelische oder eine körperliche Funktion erfüllen, konnte bis heute weder bewiesen noch widerlegt werden. Fest steht, dass wir im Laufe unseres Lebens im Durchschnitt rund 150'000 Träume haben, pro Nacht also fünf bis sechs. Der südafrikanische Neurowissenschaftler Mark Solms konnte nachweisen, dass beim Träumen die vernetzte Hirnregion hinter den Augen aktiv ist. Es ist der Bereich, der für Instinkte, Emotionen und Wünsche verantwortlich ist. Die äusseren Regionen des Gehirns, die für Logik und rationale Prozesse zuständig sind, werden dabei weitgehend abgeschaltet. Das bedeutet, dass sich im Traum tatsächlich eher unzensurierte Bauchgefühle zeigen, die durchaus im Widerspruch zu dem stehen können, was wir uns mit dem Verstand tagsüber einzureden versuchen.

Der Traum behält damit auch nach neusten Erkenntnissen seinen Wert als Zugang zu tieferen Gefühlen. Wer sich mit seinen Träumen beschäftigt, lernt also in der Tat mehr über sich selbst und kommt sich selber näher. Ein geeignetes Mittel dafür ist ein Traumtagebuch. Weil Träume flüchtige Gebilde sind, ist vorerst das Festhalten sehr wichtig.

Was tun nach einem schlimmen Traum?

  • Legen Sie ein Notizbuch und einen Stift neben das Bett.

  • Merken Sie sich während des Aufwachens die Traumbilder.

  • Schreiben Sie den Traum vor dem Aufstehen nieder.

  • Statt Papier und Stift können Sie natürlich auch ein Tonaufnahmegerät verwenden.

  • Lesen Sie Ihre Notizen später und notieren Sie Bemerkungen dazu, malen Sie ein Bild oder reden Sie mit jemandem darüber.

  • Fragen Sie sich, was der Traum für Sie bedeuten könnte.

Buchtipp

Dieter Schnocks: «Was unsere Träume sagen wollen. Botschaften aus dem Raum der Seele»; Herder-Verlag, 2009, 160 Seiten, CHF 16.90