Ihre Zeilen zeigen, welches Leid eine Essstörung nicht nur für die Betroffenen bedeutet, sondern auch für Eltern und Geschwister. Eine Anorexie ist eine bedrohliche Erkrankung. Schwere gesundheitliche Probleme sind vor allem bei längerer Dauer zu erwarten. In der Schweiz sind überdurchschnittlich viele Menschen betroffen, die Zahl magersüchtiger Jugendlicher steigt stetig an.

Eltern machen sich grosse Sorgen um ihr Kind, das immer weniger wird. Sie drängen darauf, mehr zu essen, was zu Widerstand und heftigen Konflikten führt. Für beide Seiten steht die Nahrung zunehmend im Zentrum, der Blick verengt sich, und eine Spirale von Kampf, Manipulation und purer Verzweiflung (auf beiden Seiten) beginnt.

Dabei geht es bei einer Essstörung nicht nur um Kilos und Kalorien. Dem bizarren Verhalten mit Verzicht, Zwang und Kontrolle liegen mächtige Gefühle von Angst, Unzulänglichkeit und Wertlosigkeit zugrunde.

Diese existenzielle Krise, in die junge Menschen aus unterschiedlichen Gründen geraten können, bringt ihre Welt ins Wanken. Weniger essen und Kontrolle von Nahrungsaufnahme und Gewicht verschaffen ihnen (vorübergehend) ein Stück Selbstwirksamkeit zurück. Das hier entstehende Gefühl von Autonomie («Ich entscheide, ich habe es in der Hand») scheint überlebenswichtig. Wenn aus medizinischen Gründen gegen den Willen der Betroffenen ein Klinikaufenthalt nötig wird, löst das zum Teil Todesängste aus. Der Kontrollverlust durch eine erzwungene Gewichtszunahme kann als bedrohlicher erlebt werden als die Möglichkeit zu sterben.

Des einen Problem, des andern Lösung

Hier entsteht ein Dilemma, das oft nur in einem therapeutischen Prozess aufgelöst werden kann: Für das besorgte Umfeld ist die Magersucht das Problem. Sie muss beendet werden. Wenn die Tochter/der Sohn zunimmt, ist das die Lösung, man ist erleichtert. Für die Betroffenen ist es umgekehrt: Das «magersüchtige Verhalten» ist kein Problem, sondern ein Lösungsversuch. Hungern und Kontrolle des Körpergewichts setzen dem Gefühl vom Verlust der inneren Stabilität und Sicherheit etwas entgegen.

Erfolgreiches Hungern wird (vor allem zu Beginn) als entlastend erlebt. Erst später wird deutlich, dass diese Strategie auf Dauer nicht funktioniert und einen hohen Preis fordert. Die Erkrankung entwickelt eine eigene Dynamik, die die Selbstwahrnehmung, die Gefühle und die Beziehungen beeinträchtigt und den Körper an seine Grenzen bringt.

Komplimente, die negativ wirken können

Die Therapie umfasst die Hilfe zum (Wieder-)Erlernen eines gesunden Essverhaltens (Verhaltenstherapie), aber man sollte auch der zugrunde liegenden «seelischen Entgleisung» Rechnung tragen. Verständnisvolle Unterstützung braucht es über die Wiederherstellung des Normalgewichts hinaus. Der Gesundungsprozess erfordert einen langen Atem. Themen dabei sind das Entwickeln eines positiven Gefühls für sich selbst, ein akzeptierender Umgang mit Wut und Aggression, ein Sichbehaupten in nahen Beziehungen.

Auf dem Weg dahin trifft man oft auf das folgende Phänomen: Die Jugendliche nimmt zu, das Umfeld freut sich, macht Komplimente («Schön, dass es dir wieder gut geht!» – «Die paar Kilos mehr stehen dir aber gut!») und übersieht, dass das nur die halbe Wahrheit ist: Die Gewichtszunahme kann als sehr beunruhigend erlebt werden und erneut Ängste und Spannungszustände auslösen, ohne dass Betroffene auf «magersüchtige Lösungen» zurückgreifen dürfen. Man nimmt zwar zu, weiss, dass es richtig ist – und es geht einem sehr, sehr schlecht dabei. Was also innen kaum auszuhalten ist, wird aussen gefeiert.

Hier brauchen Angehörige Unterstützung. Mit einem spezialisierten Familientherapeuten können sie klären: Wie können wir unser Kind unterstützen, ohne uns zu verausgaben? Was können wir tun und was müssen wir lassen, um hilfreich zu sein?

Buchtipps

  • Broschüre: «Essstörungen… was ist das?»; zu bestellen über www.bzga-essstoerungen.de
  • Lena S.: «Auf Stelzen gehen. Geschichte einer Magersucht»; Verlag Balance, 2007