Dominique Strebel, neulich haben wir darüber geredet Aus der Redaktion «Diese Menschen könnten ihre Existenz verlieren» , wann der Beobachter in einem Text jemanden anonymisiert vorkommen lässt. Passiert das auch nach der Publikation?

Tut es. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand hat mit seiner Firma Leute über den Tisch gezogen. Es gibt ein hohes öffentliches Interesse, mit vollem Namen vor ihm zu warnen. Dann vergehen ein paar Jahre, und der Mann hat seine Lektion gelernt, sein Geschäftsmodell aufgegeben und richtet keinen Schaden mehr an. Dann soll er auch in seinem weiteren wirtschaftlichen Fortkommen von uns nicht behindert werden.

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Die Analogie wäre: Jemand ist verurteilt worden und hat seine Strafe jetzt abgesessen?

Genau. Bei einem Straftäter würde man von Resozialisieren sprechen – einer zweiten Chance. Und bei einem journalistischen Text ist eben das öffentliche Interesse entscheidend. Das besteht zwar eine Zeit lang. Aber dann sollte man einem Menschen auch zugestehen, dass er sich geändert hat. Wir haben übrigens auch schon nachträglich etwas geändert, bei dem es gar nie Fehlverhalten gab. 

Zum Beispiel?

Wir haben einmal jemanden porträtiert, der die erste Anlage für Menschen gebaut hat, die sich nach dem Tod einfrieren lassen wollen. Und im Bild stand er in Schwarz gekleidet vor so einem Kryotank. Dahinter der Dampf seiner Anlage, alles sehr Science-Fiction-mässig. Er kam dann später auf uns zu, weil er fand, dass es ein ganz falsches Bild von seiner Person abgebe. Es gab null öffentliches Interesse, genau dieses Bild zu zeigen. Also haben wir es ausgewechselt.

Aber diese Leute müssen schon von sich aus auf uns zukommen, oder?

Ja, so was passiert nur auf Gesuch. Davon bekommen wir etwa zehn bis fünfzehn pro Jahr. Die prüfen wir. Und wenn wir finden: Ja, da ist genug Zeit verstrichen – Faustregel sind sieben Jahre –, dann machen wir das meistens auch. Ausser wenn es besondere Umstände gibt.

Besondere Umstände?

Wenn wir zum Beispiel merken, dass jemand sein betrügerisches Verhalten beibehalten hat und weiterhin Schaden anrichtet. Also zum Beispiel Firma nach Firma gründet und gezielt Konkurs gehen lässt. Oder immer neue dubiose Produkte verbreitet. Damit die Konsumentinnen überhaupt gewarnt werden können, müssen wir seinen Namen weiter nennen, nicht nur sein Produkt oder seine Firma von damals. Es kommt also vor, dass so ein Löschungsgesuch weitere Recherchen auslöst und wir genauer hinschauen. Entsteht da wirklich kein neuer Schaden mehr? Oder hat der Artikel von damals weiterhin eine Warnfunktion? 

Sieht man das irgendwo, wenn nachträglich was geändert wurde?

Ja, dann machen wir einen Zusatz zum Text. Wir machen kenntlich, wenn wir an einem Text nach der Publikation etwas ändern. Ausser es handelt sich einfach um eine journalistische Ungenauigkeit, also etwas, das den Gesamteindruck des Textes, die Gesamtaussage des Textes nicht erheblich beeinflusst.

Namen ändern, Firma ändern … das ist alles ein Chefredaktorenentscheid, nehme ich an.

Das entscheidet der Chefredaktor, ja. Ich bin medienrechtlich, medienethisch sattelfest und muss am Schluss auch die Verantwortung tragen. Ich nehme aber immer Rücksprache mit der Autorin oder dem Autor, denn sie oder er kennt ja die Sachverhalte genauer, kennt die Recherche-Unterlagen, kennt den ganzen Kontext. Und mit der Rechtsabteilung.

Gibts auch Fälle, bei denen wir nichts zu entscheiden haben und einfach verpflichtet sind, etwas zu ändern?

Ja, da ist einerseits die rechtliche Pflicht. Sprich: Wenn ein Gericht eine Persönlichkeitsverletzung feststellt und etwa eine Berichtigung oder eine Anonymisierung anordnet. Und dann gibt es noch eine medienethische Pflicht. Wir schulden unseren Leserinnen korrekte Berichterstattung und Transparenz, jetzt ist uns aber ein Fehler passiert. Wir haben zum Beispiel von 35 Millionen geschrieben, und dabei sind es 3,5 Millionen. Blöder Kommafehler. Dann machen wir ein Korrigendum.

Und dass ein Artikel ganz verschwindet …

… passiert wirklich nur im äussersten Notfall – als Ultima Ratio. Weil es grundsätzlich ein korrekter Text ist, wenn er nach den journalistischen Standards publiziert wurde. Also warum löschen? Da genügt fast immer eine mildere Massnahme wie etwa eine Anonymisierung. Die Archivwahrheit ist eben auch ein wichtiges Gut. Das ist ein ähnlicher Anspruch wie bei einem staatlichen oder historischen Archiv. Man soll später nachvollziehen und dokumentieren können, was einmal war und was der Beobachter dazu publiziert hat. Das gibt unserer Berichterstattung eine historische Tiefe. Und die schulden wir unserem Publikum auch, finde ich.

Zur Person

Dominique Strebel ist seit Mitte 2021 Chefredaktor des Beobachters. Er ist Jurist, leitete die Diplomausbildung an der Schweizer Journalistenschule MAZ und war von 2005 bis 2012 bereits Redaktor beim Beobachter. Damals recherchierte er unter anderem die Hintergründe der sogenannten administrativ Versorgten. Strebel ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Zürich.