Über dem Stockberg ob Niederurnen am Eingang zum Glarnerland zieht ein Adler seine Kreise. Ein paar Mal schon hat er sich auf dem Hof der Familie Roth-Züger ein Huhn geholt. Die zwei dicken Hofhunde konnten es nicht verhindern. Und auch die Gänse, die bei einem Angriff Alarm schlagen sollten, taugten nicht als Aufpasser. Jetzt haben die Roths Drähte über den Hühnerhof gespannt, die ihre Hennen schützen sollen. Denn die Roths können es sich nicht leisten, ein weiteres ihrer 50 Legehühner zu verlieren.

Die Eier, das Fleisch von Schweinen und Kälbern sowie den Honig von acht Bienenvölkern verkaufen die Roths direkt an Kunden im Tal. Das bringt ihnen jährlich rund 15'000 Franken ein. Dazu kommen 15'000 bis 20'000 Franken aus ihrem Milchkontingent sowie Direktzahlungen wie Flächen- und Hangbeiträge von zirka 40'000 Franken. Diese Einkünfte abzüglich Kosten reichen der vierköpfigen Familie aber nicht zum Leben. Rosmarie Roth arbeitet deshalb an drei Tagen in der Woche als Verkäuferin in einem Handwerkermarkt, und Jakob Roth wäscht zweimal die Woche Käselaibe in einer Käserei im Tal. Seine kräftigen Arme drehen und salzen 1200 Tilsiter à fünf Kilo in zwei Stunden. Im Winter pflügt er für die Gemeinde.

«Für die Landwirte in den Bergen ist das Leben in den letzten 30 Jahren sehr viel schwieriger geworden», sagt Leo Utelli. Wer könnte das besser beurteilen als er: Seit drei Jahrzehnten steht der ehemalige Pfarrer und Hotelier Berglandwirten in Not mit Rat und Tat zur Seite. «Der Kostendruck ist heute enorm. Milchproduktion und Rinderaufzucht wandern immer mehr ins rentablere Unterland ab», sagt der 69-Jährige. Am schlimmsten sei der Druck der Mechanisierung: «Ein neuer, geländegängiger Ladewagen kostet gegen 100'000 Franken und verursacht zudem Unterhalts- und Reparaturkosten.» Solche grösseren Investitionen brächten viele Bergbauernfamilien an den Rand des finanziellen Abgrunds.

Ob Maschinenkäufe, Scheunenneubau oder Stallumbauten: Utelli verhandelt mit Amtsstellen, macht Subventionen und Investitionskredite locker und stellt Gesuche an Hilfswerke. Im Bündnerland, im Toggenburg und im Glarnerland hat er zahlreichen Bauernfamilien durch Krisen geholfen und ihnen neue Zukunftsperspektiven eröffnet. Seit 30 Jahren unterstützt ihn die Stiftung SOS Beobachter bei seiner Arbeit.

Heute steht er in der Küche der Familie Roth und entfaltet einen grossen Bauplan. Mit Rosmarie Roth diskutiert er, wo sie in ihrer neuen Küche den Kühlschrank und den Kochherd haben möchte. Die Stimmung ist ausgelassen, heute ist ein Freudentag. Die Kinder Amanda, 12, und Michael, 10, haben aus dem Dorf zum Mittagessen ein dickes Kuvert mitgebracht: die Baubewilligung für das neue Wohnhaus der Roths.

Es regnet und schneit ins Haus
Sie brauchen ein neues Heim, denn in ihrer alten «Villa Durchzug» zu hausen ist kein Schleck. Der Küchentisch steht auf dem nackten Nagelfluhfelsen des Stockbergs. Nur die gröbsten Unebenheiten sind ausgebessert. Jakob Roths Grosseltern hatten den Fussboden in den Stein gehauen. Bei «Schlagwetter», wenn der Wind den Regen gegen die Schindelfassade peitscht, tropft das Wasser von der Decke direkt in die Kochtöpfe oberhalb der Spüle.

Am schlimmsten ist der Winter. Nur der dicke Wollvorhang hinter der Eingangstür verhindert, dass der Wind den Schnee durch die Spalten mitten in die Küche bläst. «Dann müssen wir schon hinter dem Vorhang anfangen zu schaufeln, bevor wir aus dem Haus können», sagt Rosmarie Roth. Der eingefeuerte Holzherd hält bei Kälte die sechs Quadratmeter kleine Küche gerade mal eine Stunde lang warm. Und ab und zu gibt es weder in der Küche noch im Bad fliessendes Wasser, weil die Leitungen eingefroren sind.

Rosmarie Roth zeigt auf die schiefe Holztür in der Wand. Dahinter verbirgt sich die Toilette. «Da draussen ist man im Winter sicher nicht zu lang», sagt sie. Ein paar Bahnen Glaswollmatte verdecken dort mehr schlecht als recht die Spalten zwischen den Rundbalken der Aussenwand. Im oberen Stock, wo sich das Eltern- und das Kinderschlafzimmer befinden, gibt es weder Täfer noch Isolation – nur die blanken Rundhölzer des Chalets.

Erst seit 1995 warmes Wasser
Dass Amanda und Michael bald ihr eigenes warmes Schlafzimmer bekommen, freut Jakob und Rosmarie Roth am meisten. Bisher ist die winzige Stube mit dem braunen Kachelofen der einzige warme Raum im Haus. Hier wird in der kalten Jahreszeit selbst die Wäsche aufgehängt – weil sie sonst nirgends trocknet.

Es gab allerdings Zeiten, wo alles noch viel schlimmer war: Als Jakob Roth 1993 den Hof von seinen Eltern pachtete, gab es weder eine rechte Zufahrtsstrasse noch warmes Wasser, noch ein Bad im Haus. Inzwischen hat Jakob Roth neben der Küche eine Badewanne eingebaut, das Bad mit geschenkten Plättli gekachelt und die Decke mit Spanplatten aus einer Abfallmulde etwas isoliert. Die neue Zufahrtsstrasse hat er mit einem 40-jährigen Menzi-Muck-Bagger in die stotzigen Hänge gegraben, den 50-Liter-Boiler selbst installiert. «Das war eine Sensation, als wir das erste warme Wasser im Haus hatten», sagt Jakob Roth. Das war 1995.

1998 kaufte er den Hof seinen Eltern ab, und seither will er das Bauernhaus erneuern. Doch im Verkehr mit den Gemeindeämtern, Kantons- und Bundesstellen war er total überfordert: Bewilligungsverfahren, Bauauflagen, Abklärung von Finanzierungsmöglichkeiten. «Für alles braucht es Bewilligungen», klagt Jakob Roth. «Ein paarmal hab ich gedacht: ‹Blased mir i d Schue.›»

«Wenn Pfarrer Utelli nicht gewesen wäre, hätten wir aufgegeben», sagt Rosmarie Roth. Ja, seit der Utelli aufgetaucht sei, wende sich alles zum Guten, bestätigt ihr Mann. «Ein bisschen traurig stimmt es mich aber schon, dass wir ohne fremde Hilfe nicht weitergekommen wären.»

Ein Jahr nachdem Utelli auf Ersuchen der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete die Roth-Zügers erstmals besuchte, liegt nun die Baubewilligung auf dem Tisch, und die Finanzierung des Neubaus ist praktisch gesichert. Die Stiftung SOS Beobachter unterstützt das Projekt mit 10'000 Franken Spendengeldern. Auch die Schweizer Berghilfe, ein Förderverein vom Zürichsee und ein Lions-Club leisten Beiträge. Bund, Kanton und Gemeinde zahlen 80'000 Franken an Subventionen. Den Rest finanzieren die Roths über Kredite oder durch ihre Arbeit.

Selbst ist der Sprengmeister
Für 50'000 Franken wollen sie Eigenleistungen erbringen: ihr altes Wohnhaus abbrechen, das neue Fundament ausheben, schreinern, Plättli legen, malen und auf dem Dach Eternit anschlagen. «Ich kann aus fast nichts alles machen», sagt Jakob Roth. Aber auch das Umgekehrte schafft er, macht selbst Fels zu nichts: Bereits hat er Sprengstoff besorgt, mit dem er dem Fels des Stockbergs den Platz für sein neues Haus abgewinnen will. Ein Bauer mit Sprengmeisterbrevet

«Die Roths wollen hier oben unbedingt bauern. Das war meine Motivation, ihnen zu helfen», sagt Utelli. Und die Roths sind wirklich Bauern mit Leib und Seele. Bereits haben sie den Stall modernisiert, mehr Platz für die Tiere geschaffen. Auf dem Miststock davor sonnt sich bei schönem Wetter eine Muttersau mit ihren Ferkeln. Den sieben Hektaren eigenen Wiesen und den 7,5 Hektaren Pachtland am Hang mit über 35 Prozent Steigung trotzen sie einiges ab: Die zwölf Kühe bringen rund 60'000 Liter Milch.

«Dieser Hock ist es wert, dass man ihn nutzt», sagt der Landwirt. «Wir können das Land hier doch nicht einfach verganden lassen. Und diese Aussicht, die kann uns niemand nehmen.» Sein Blick schweift hinunter ins saftgrüne Tal, wo silbrig der Linth-Kanal und der Walensee schimmern. Ein paar Augenblicke später fügt er etwas wehmütig an: «Selbst wenn ich acht Kinder hätte, könnte ich nicht sicher sein, dass eines den Hof übernimmt.»

Mit dem neuen Haus der Roths dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass eines seiner beiden Kinder auf dem Stockberg bleibt, jedoch erheblich steigen.