Stellen Sie sich vor: Zwei Freunde schiessen mit ihren Gewehren blindlings in den Wald. Einer hat Pech. Er trifft einen Spaziergänger, der seinen Schussverletzungen erliegt. Die beiden Schützen müssen sich danach vor dem Strafgericht verantworten. Wie würden Sie als Richterin oder Richter entscheiden? Würden Sie den Schützen, der zufälligerweise niemanden getroffen hat, viel leichter bestrafen als den Todesschützen? Kaum, oder?

Doch genau das hat die Mehrheit der Verkehrskommissionen von National- und Ständerat vor: Sie wollen den Rasertatbestand abschwächen. Die Gerichte sollen bei der Beurteilung von Raserfahrten die konkreten Umstände, das Verschulden und die Verhältnismässigkeit viel stärker berücksichtigen können.

Mit 112 zu 73 Stimmen beschliesst der Nationalrat die Via-Sicura-Gesetzgebung zu lockern. Damit gibt die grosse Kammer den in der Verkehrskommission behandelten Vorstoss weiter an den Bundesrat.

Dieser wird dem Parlament eine Gesetzesänderung vorlegen, bei der von einer Mindeststrafe für Raser abgesehen wird. Bisher sah diese eine Freiheitsstrafe von einem Jahr vor sowie den Entzug des Führerausweises von mindestens zwei Jahren. Richter sollen damit mehr Spielraum bei der Würdigung der Umstände erhalten.

Als Raser gilt beispielsweise, wer innerorts mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h unterwegs ist oder auf der Autobahn mit über 200 km/h fährt.

Klingt vernünftig – trotzdem grundfalsch

Das klingt vernünftig und ist trotzdem grundfalsch. Die Befürworter verkennen den entscheidenden Punkt: Die Straftatbestände des Strassenverkehrsgesetzes stellen nie auf den konkreten Erfolg ab, sondern auf das Gefahrenpotenzial, das von Rasern ausgeht. Es soll eben gerade nicht milder bestraft werden, wer aus Zufall keine Frontalkollision verursacht, sondern als Folge der übersetzten Geschwindigkeit «nur» im Acker landet.

Das gilt ganz besonders bei den Raserdelikten: Wer sein Auto oder seinen Töff ausserorts auf über 140 km/h beschleunigt, verwandelt das Fahrzeug in ein Geschoss und überlässt es so – wie die beiden Schützen – dem Zufall, ob jemand schwer verletzt oder gar getötet wird, selbst wenn auf der Hauptstrasse weit und breit niemand zu sehen ist.

Für eine unterschiedliche Beurteilung bleibt bei solchen Geschwindigkeiten nur ein ganz kleiner Spielraum. Das sah auch der Gesetzgeber so, als er das Begehren der Raserinitiative – und damit ganz vieler Stimmberechtigter – übernommen hatte. Das Parlament wollte damals ausdrücklich keine Einzelbewertung von Raserfahrten, sondern klare und unumstössliche Konsequenzen in Form einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Ausweisentzug von mindestens zwei Jahren.

«Wieso sollen Verkehrsteilnehmende, die absolut rücksichtslos das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzen und mit ihren Verkehrsunfällen unfassbares Leid über die Angehörigen der Opfer bringen, überhaupt mildernde Umstände erhalten?»

 

Daniel Leiser, Beobachter-Verkehrsrechtsexperte

Es gibt noch einen Punkt, den die Befürworter eines abgeschwächten Rasertatbestands ausblenden: Jene Raserinnen und Raser, die unglücklicherweise einen schlimmen Unfall mit Schwerverletzten oder sogar Todesopfern verursachen, müssen sich nach geltendem Recht zusätzlich der fahrlässigen oder eventualvorsätzlichen schweren Körperverletzung oder der Tötung verantworten. Das heisst: Der konkrete Ausgang einer Raserfahrt wird nach geltendem Recht bereits berücksichtigt. Für eine weitergehende Einzelfallgerechtigkeit besteht deshalb kein Bedarf.

Das Vorhaben der Verkehrskommissionen ist bereits aus rechtslogischen Gründen äusserst fragwürdig. Noch viel fragwürdiger sind die Motive der Politikerinnen und Politiker: Wieso sollen Verkehrsteilnehmende, die absolut rücksichtslos das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzen und mit ihren Verkehrsunfällen unfassbares Leid über die Angehörigen der Opfer bringen, überhaupt mildernde Umstände erhalten?

Härtere Sanktionen haben Wirkung gezeigt

Um den aus dem Balkan stammenden Jugendlichen, der bei einem Rennen erwischt wurde, kann es ihnen ja kaum gehen, stammt die Mehrheit der Befürworter doch aus dem rechtsbürgerlichen Lager. Geht es also eher um den Berufschauffeur, der am Feierabend mit seinem Töff den Gashahn zu fest aufdreht, wie es SVP-Nationalrat Alfred Heer in einer Talkshow formulierte? Nur, ist sich nicht gerade ein Berufschauffeur den Gefahren der Raserei sehr bewusst?

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Tatsache ist, dass sich die härteren Sanktionen im Strassenverkehr spürbar positiv ausgewirkt haben. Das hat ein Bericht des Bundesrats haargenau bewiesen. Tatsache ist auch – das zeigt die aktuelle Diskussion –, dass dem Wildwuchs bei der Beurteilung von Raserfahrten Tür und Tor geöffnet würde. Wollen wir das wirklich? Als Verkehrsrechtsexperte und Vater von zwei Buben bin ich der Meinung, dass es überhaupt keine vernünftigen Gründe gibt, Raserinnen und Rasern in irgendeiner Form entgegen zu kommen.

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Raphael Brunner, Redaktor
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