Sonntagmorgen, kurz nach sechs Uhr auf der A1. Die mobile Einsatzpolizei Aargau macht Jagd auf Raser. Das Fahrzeug, ein ziviler BMW 330i mit 231 PS, ist mit modernster Video- und Messtechnik ausgerüstet. Am Steuer sitzt der Gefreite Thomas Bircher, 41, neben ihm der Einsatzleiter Markus Heynen, 40. Fällt ihnen ein Temposünder auf, beginnen sie mit der Geschwindigkeitsmessung und nehmen die Verfolgung auf. Was viele Autofahrer als Schikane empfinden, mache «durchaus Sinn», sagt Heynen: «Es geht dabei um die Verhinderung von Unfällen und letztlich um Menschenleben.»

Im ersten Halbjahr 2003 hat sich die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle auf Aargauer Strassen verdoppelt – bis Ende November verloren dabei 42 Menschen ihr Leben. Häufigster Unfallgrund ist Raserei. Seither intensivierte die Kantonspolizei die Geschwindigkeitskontrollen – unter anderem mit zwei Hightech-BMW und drei mobilen Radarmessgeräten.

National Schlagzeilen machten die «Todesfahrer von Muri»: Ein Privatrennen zwischen Boswil und Muri endete Anfang November mit einer Frontalkollision; zwei Menschen starben, sieben wurden schwer verletzt, darunter auch vier Kinder.

Viele halten Tempo 120 für Richtwert
Von hinten nähert sich mit grosser Geschwindigkeit ein Renault Laguna mit Zürcher Kennzeichen. Der BMW nimmt die Verfolgung auf und beschleunigt auf gegen 190 Stundenkilometer. Nach drei Kilometern wird der Raser gestoppt. Die Konversation mit dem in Deutschland lebenden Serben ist schwierig. Das Auto gehöre seiner Freundin in Winterthur, er sei auf dem Weg zu ihr und deshalb so in Eile, sagt der 36-jährige Musiker.

Das Messprotokoll zeigt eine Maximalgeschwindigkeit von 185 Stundenkilometern an, 172 waren es im Schnitt, nach dem Abzug von sechs Toleranzprozenten bleiben noch 161 Stundenkilometer – 41 zu viel. Die auf 1200 Franken veranschlagte Busse schockiert den Serben. Zum Glück bürgt seine Freundin per Handy für die Bezahlung. Am Schluss entdeckt er die in der Nackenstütze versteckte Kamera und meint: «Das ist nicht gut.»

Inzwischen hat es zu regnen begonnen. Trotzdem scheint Tempo 120 für viele Fahrer eher Richt- als Maximalgeschwindigkeit zu sein. Viele fahren mit 130, 140 Stundenkilometern.
Das Risiko, mit übersetztem Tempo erwischt zu werden, beträgt etwa 1:1000 bis 1:1500. Trotzdem mussten letztes Jahr fast 30'000 Fahrer ihren Führerschein abgeben – viele von ihnen nicht zum ersten Mal (siehe Nebenartikel «Trio infernal»).

Die beiden Aargauer Polizisten nehmen nur «grosse Fische» ins Visier. 20 oder 30 Stundenkilometer zu viel sind zu wenig, um einzugreifen. Birchers Rekordraser hatte 209 Stundenkilometer auf dem Tacho.

Nicht ganz so schnell nähert sich ein voll bepackter Renault Espace. 161 Stundenkilometer zeigt die Messung als Spitzenwert, auch auf einem Tempo-100-Abschnitt war er viel zu schnell unterwegs. Im Fahrzeug sitzen vier Männer, eine Frau, ein sechsjähriger Junge sowie ein Baby, das schlecht gesichert in einer Wickeltasche liegt. Sie wollten in einem einzigen Tag vom Prättigau nach Portugal zurückreisen, deshalb die rasante Fahrt, entschuldigt sich die Mutter der beiden Kinder. Die Portugiesen zahlen die Busse von 500 Franken anstandslos.

Sonntagsfahrer der fahrlässigen Art
Bei 200 der über 500 tödlichen Unfälle, die sich vergangenes Jahr in der Schweiz ereigneten, war überhöhte Geschwindigkeit im Spiel. Würden die Tempolimiten eingehalten, könnten 60 Todesfälle und 570 schwere Verletzungen pro Jahr vermieden werden, schätzen Experten. Doch dafür bräuchte es mehr Kontrollen – dazu fehlen Geld, Personal und der notwendige politische Wille.

Die Aargauer Geschwindigkeitshüter verlassen die Autobahn. In der Nähe von Vordemwald fällt Bircher ein aufgemotzter Opel Vectra auf. Die Verfolgung ist nicht einfach, denn die Polizisten wollen keine unnötigen Risiken eingehen. Mit 75 Stundenkilometern blocht der Lenker durch Ortschaften und über Fussgängerstreifen. Ausserorts, auf der teils nassen, kurvenreichen und unübersichtlichen Strecke erreicht er bis zu 148 Stundenkilometer.

An einem Rotlicht setzen Bircher und Heynen der riskanten Fahrt ein Ende. Der 22-jährige Fahrer riecht stark nach Marihuana, doch die Inspektion des Fahrzeugs fördert nichts Greifbares zu Tage. Er wolle seinen Bruder, der tags zuvor auf einem Fussgängerstreifen angefahren worden sei, im Spital besuchen, versucht sich der junge Aargauer herauszureden. Die sonntägliche Polizeikontrolle betrachtet der Raser als «reine Schikane»: «Am Sonntagmorgen sind ja keine Schulkinder auf der Strasse.» Die auf Video festgehaltene Fahrt will sich der Raser nicht anschauen. Nach und nach wird er ausfällig. Bircher und Heynen bleiben ruhig. Sie sind sich einiges gewöhnt.

Raser zeigen meist wenig Einsicht
Auch der Oltner Psychologe Andreas Widmer, 45, hat einschlägige Erfahrungen mit Rasern. «Diese Leute gehören zu den allerschwierigsten Klienten.» Vor einigen Jahren spezialisierte sich Widmer auf die Therapie von Verkehrssündern. «Leute, die wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand (FiaZ) zu mir kommen, zeigen meist Reue und versprechen Besserung. Ganz anders die Raser.» Da komme es am Anfang einer Therapie auch zu «wüsten Beschimpfungen und Drohungen im Stil von ‹Wissen Sie eigentlich, dass der Amokschütze von Zug viele Freunde und Bewunderer hat?›»

Widmer bekommt die widerwilligen Klienten im Rahmen des Massnahmenvollzugs von den Strassenverkehrsämtern zugewiesen. Im Gegensatz zu den «Fiazlern» habe es für Raser bislang keine speziellen Gruppen-Therapieprogramme gegeben, sagt Widmer. Das «Modell Kurve» (Kurs für mehrfach verkehrsauffällige Fahrer), das er im Auftrag des Verbands der Schweizer Verkehrspsychologen und mit Unterstützung der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) entwickelt hat, soll diese Lücke nun schliessen helfen.

Nach zwei Aufnahmegesprächen, bei denen einige Raser als therapieresistent ausscheiden, versucht Widmer, die Tempobolzer in sechs 90-Minuten-Sitzungen von ihrem risikoreichen Fahrverhalten abzubringen. Ziel der Therapie ist nicht die Analyse der Gründe für das Rasen. Vielmehr versucht Widmer – unter Mithilfe des Gruppendrucks – das Verhalten zu verändern. Bisher hat er zwei Pilotkurse durchgeführt. Für Aussagen über Erfolg oder Misserfolg ist es zu früh, doch Widmer ist zuversichtlich. Falls sich das «Modell Kurve» bewährt, soll es unter dem Patronat der BfU zum schweizerischen Standard erklärt werden und mit der neuen Strassenverkehrsordnung und ihren verschärften Strafen für Raser 2005 eingeführt werden.

Der Temposünder von Vordemwald ist kein unbeschriebenes Blatt. Es sei nicht das erste Mal, dass er mit zu hoher Geschwindigkeit erwischt worden sei, gibt er freimütig zu. Er rase «aus Freude», gibt er als Grund für den jüngsten Tempoexzess zu Protokoll – als er unterschreiben muss, streicht er die beiden Worte wieder durch.

Über Höhe und Art der Strafe muss nicht Thomas Bircher entscheiden. Doch der Polizist macht kein Hehl daraus, dass er dem notorischen Raser am liebsten den Ausweis entzogen hätte. Dafür reicht die gemessene Durchschnittsgeschwindigkeit von 120 Stundenkilometern aber nicht aus.

Fahrausweisentzug allein reicht nicht
Der Basler Verkehrspsychologe Urs Gerhard, 53, ist regelmässig mit Rasern konfrontiert, die das Billett abgeben mussten. Als Experte für die Kantone Basel-Stadt und Baselland muss er abklären, ob jemand, der dreimal im Verkehr auffällig wurde oder dem nach einem besonders schweren Delikt der Führerschein entzogen wurde, wieder hinters Lenkrad darf. Dabei komme es auch vor, dass Raser aus «besseren Kreisen ihre Beziehungen ins Spiel bringen» wollten, um wieder zu ihrem Führerschein zu kommen.

Auch ohne solche Druckversuche ist Gerhards Aufgabe nicht leicht. Neben dem Aktenstudium unterzieht er die Delinquenten einem zwei- bis dreistündigen Gespräch. «Bei den Alkoholsündern gibt es mit der Abstinenz eine Art Tatbeweis. Bei den Rasern ist das schwieriger. Da schaue ich zum Beispiel, ob einer Reue zeigt – oder ob er sich mit dem Opfer in Kontakt gesetzt hat.» Zwischen Reue und Lippenbekenntnissen zu unterscheiden sei aber nicht immer einfach. Rund die Hälfte der Raser zeige sich ohnehin völlig uneinsichtig und betrachte den Führerschein quasi als ein Menschenrecht. Möglicherweise sei man früher «zu nachgiebig» gewesen, sagt Urs Gerhard, «vielleicht müssen wir rigoroser werden».

Führerscheinentzug ist allerdings keine Garantie, dass die Raser die Strasse nicht mehr unsicher machen. An der tödlichen Kollision in Muri beispielsweise waren Fahrer ohne Ausweis beteiligt.

Am Tag des Unfalls von Muri habe er keinen Dienst gehabt, sagt Markus Heynen. Im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit habe er aber genug andere schreckliche Unfälle gesehen. Daran gewöhnt hat er sich bis heute nicht: «Besonders schlimm ist es, wenn unschuldige Kinder zu den Opfern gehören.»