Der kleine Tisch steht schräg unter der Abflugtafel im Terminal A des Flughafens Kloten. Vor dem Tisch die Rolltreppe hinauf zu den Check-in-Schaltern, dahinter die kurze Ladenpassage zum Zoll. Hinter den grossen Scheiben führt der Blick auf die Standplätze der Flieger. Drei Heckflossen, drei weisse Kreuze auf rotem Grund. Eine gute Lage. Schokolade, CDs, Ansteckknöpfe mit der Aufschrift «I love Swissair», Flugzeug-Pins mit Schweizer Kreuz und rote Mäschchen. Alles Spenden von Swissair-Freunden.

Flight-Attendant Judith Baumann verkauft die kleinen Geschenke zur Unterstützung von Härtefällen. Für Menschen, die für die Swissair arbeiteten, entlassen wurden – oder noch werden – und finanziell nicht mehr über die Runden kommen. «35'000 Franken habe ich bereits gesammelt», sagt sie stolz. 150 Millionen fehlen für den Sozialplan der Swissair.

Die Welt zieht vorbei, Afrika, Asien, Amerika, weinende Kinder, traurige Verliebte. Abschied. Die Regale in den Geschäften sind voll, Taschenmesser gibts als Aktion, die Bar ist schlecht besucht. Es ist Freitagmorgen, und die Abfertigungsschalter der Swissair sind leer. Judith Baumann kanns nicht verstehen. «Nie hätte ich gedacht, dass das möglich ist. Dass die Swissair untergehen wird. Mit vier Jahren war ich erstmals auf dem Flughafen. Als ich eine Hostess sah, sagte ich zu meiner Mutter: ‹Ein solches Fräulein will ich auch einmal sein.›» Und so kam es. «Seit 1973 darf ich nun bereits als Flight-Attendant für die Swissair arbeiten. Heute bin ich Maître de Cabine – ein Aufstieg.»

Judith Baumann sitzt am grossen Fenster des Flughafenrestaurants und schaut auf die Flugzeuge. «Ich muss fliegen, ohne die Fliegerei bin ich nur ein halber Mensch. Mit der Swissair habe ich die halbe Welt gesehen. Meine Freundin sagte einmal zu mir: ‹Wenn ich mit dir rede, fällt pro Gespräch mindestens einmal das Wort Swissair.› Es ist eine Sucht, eine Droge.»

Und was bewirkt diese Droge? «Sie geht durch Mark und Bein, das Adrenalin beim Start, der Schub, das Gefühl, eine Familie zu sein, die Verantwortung.» Faszination Fliegen, Faszination Swissair. Was macht sie aus? «Wir von der Swissair werden im Ausland immer speziell behandelt. Das Schweizer Kreuz trägt viel dazu bei. Dieses Gefühl verbindet alle, die hier arbeiten.» Faszination Schweizer Kreuz. «Wenn ich im Ausland sage: ‹Ich bin Schweizer›, erwarte ich etwas – einen Ausruf des Erstaunens, Überraschung, Hochachtung oder wenigstens Freundlichkeit», schrieb Peter Bichsel 1969 in «Des Schweizers Schweiz». «Ich bin Schweizer. Das hat mehr zu bedeuten als die einfache Antwort auf die Frage: ‹Woher kommen Sie?›»

Dieses Gefühl muss die Angestellten der Schweizer Airline seit 1931 getragen haben. «Die Uniform ist meine zweite Haut», sagt Judith Baumann. Die blaue Uniform, mit einem Swissair-Pin, Foulard, Kugelschreiber – auf allem ein Schweizer Kreuz.

«Job weg – wir helfen»
Arbeitsmarktzentrum der Swissair, zwischen Gate Gourmet und SR Technics. Hier ist der Traum zu Ende. Im hellen, grau-weiss gestrichenen Raum treffen sich Techniker, Ingenieure, Putz- und Kabinenpersonal. Eine grosse Familie.

4500 Swissair-Angestellte werden bis Ende Jahr entlassen. Jetzt geht es um die Arbeitszeugnisse, Kündigungen, Nachweise von Arbeitsbemühungen, Bewerbungsdossiers. Gestelle mit Broschüren und Informationsblättern füllen den Raum: «Wie bewerbe ich mich richtig?» – «Job weg – wir helfen.» – «Umgang mit Zukunftsängsten, ein Workshop.» Und Stellwände mit Jobangeboten. Gesucht werden Verkaufsberaterin, Küchenchef, Magaziner, Polizeiaspirant. Eine ausländische Airline braucht einen Piloten. Es ist halb zehn Uhr morgens. Noch sind wenige Leute da.

An einem der beiden Computer stehen drei Frauen. Sie suchen für sich und ihre Männer einen Job, denn sie haben alle die Kündigung erhalten. Auf die Frage, woher sie kommen, antworten sie: «Aus Glattbrugg.» – «Aus Schwamendingen.» Erst beim zweiten Mal nennen sie ihr Geburtsland: Philippinen, Armenien, Dominikanische Republik. «Da gehen die Schweizer gern in die Ferien», kichert eine. «Ja, wir von der Swissair sind eine Familie», sagt die Philippinin aus Glattbrugg.

Sabine Fretz Leutwiler und ihr Mann Roger Leutwiler wollen sich nur informieren. Die beiden Piloten haben sich an der Swiss Aviation School getroffen und vor drei Monaten geheiratet. «Ich habe nicht einmal ein Arbeitszeugnis meines alten Arbeitgebers. Ich war so sicher, dass ich bei der Swissair bleiben würde», sagt die Pilotin. Nein, den blauen Brief hätten sie bis jetzt noch nicht erhalten. Die Presse habe zwar vermeldet, die Kündigungen seien unterwegs. «Heute war der Briefkasten noch leer – aber wir rechnen fest damit.»

Für das fliegende Ehepaar kam immer nur die Swissair in Frage. Wer für diesen Betrieb arbeite, lebe in zwei Welten mit zwei Familien. Schon als Bub wollte Roger Leutwiler Pilot werden. Und seine Frau schwärmt: «Ich liebe diesen Job innig; Fliegen ist einmalig. Ich steuere 230 Tonnen durch die Luft, durchquere Gewitter, Stürme, Wolken, ich sehe Licht, das ich von unten nicht sehen kann – so nah erlebe ich die Natur nur im Flieger.»

Ihre Lage sehen die beiden nüchtern. «Wieso soll ich denn mit den Schuldigen abrechnen?», fragt Roger Leutwiler. Keine Sündenböcke, keine Feindbilder? «Ich weiss jetzt, dass in der Schweiz nicht alles so läuft, wie es sollte. Aber weshalb wütend sein? Ich muss nach vorne schauen.»

Eine gesicherte Drehtür schiebt die Flight-Attendants und Piloten in ihre zweite Welt, ins Operation-Center. Dieses Gebäude ist das Herz der Swissair. Von hier aus wird der Flugbetrieb sichergestellt. Hier bereiten sich die Crews auf ihre Flüge vor. Zürich–Prag–Zürich–Oslo, dann übernachten. Am nächsten Tag erneut nach Zürich, von da nach Paris und München und wieder nach Hause. Alles in zwei Tagen. Oft wissen die Angestellten beim Aufwachen nicht, wo sie sich befinden.

10 Uhr 35 in einem kargen, fensterlosen Raum; Stühle mit kleinen Klapptischen. Das Briefing der Swissair-Crew des Fluges 128 nach Washington verläuft routiniert. Der Umgang unter den Swissair-Angestellten ist freundlich, fast jovial: da ein Spruch, hier ein Schulterklopfen.

Denise Käser, Maître de Cabine, begrüsst ihre acht Kolleginnen und Kollegen. «Wir haben heute nur 100 Passagiere, die wir verwöhnen dürfen. Ich bitte euch: Tut das. Wir wollen honorieren, dass sie immer noch mit uns fliegen. Jeannine, zwei rechts mit Duty, Fernando drei links mit Duty, George vier rechts ohne Duty. Wer zählt die Passagiere?» Fernando. Die Anweisungen der Chefin sind kurz und präzis. Ein Prozedere mit eigener Sprache und eigenem Rhythmus. «Und bitte, erklärt in der Business-Class, warum wir Plastikbesteck ausgeben, sonst meinen die Kunden, es sei wegen der Sparmassnahmen.» Freundlichkeit wird diesen Flug begleiten.

«Wir leben in der Legende»
Abflug um 12 Uhr 05. Gut neun Stunden später werden die Crew-Mitglieder erschöpft in Washington landen – derweil im Operation-Center ihre Kündigungen in die Briefumschläge gepackt werden. Alle rechnen damit, einen Drittel wird es treffen. «Aber wir fliegen weiter, jetzt erst recht», sagt Denise Käser. Noch fliegt das weisse Kreuz auf der roten Heckflosse.

Captain Mester Csaba bittet das Team zu sich. «Mit so wenig Passagieren sind wir ein wenig einsam da vorne. Das Klopfzeichen kennt ihr ja.» Seit den Terroranschlägen vom 11. September bleiben die Kabinentüren verschlossen.

Die Crew-Mitglieder sind zwischen 20 und 30. Alles hübsche, gepflegte Menschen in langweilig-blauen Uniformen. Einigen sind die Ärmel zu lang, anderen die Schultern zu breit. Keine Massarbeit, und der Stoff ist nicht vom Feinsten. Trotzdem sind die Swissair-Leute stolz auf die Uniform, denn sie ist ihre zweite Haut.

Am Dienstag wird das Arbeitsmarktzentrum die Beratungszeit von einer auf eine halbe Stunde reduzieren. Die Kündigungen sind raus, und auch Roger Leutwiler hats getroffen. Er und seine Frau haben bei ihrem Arbeitgeber 180'000 Franken Ausbildungsschulden. Sabine Fretz Leutwiler darf noch bleiben – sie ist schwanger. «Unser Kind soll einmal einen anständigen Beruf erlernen», sagt sie. Und lacht.

Judith Baumann räumt ihren Tisch im Terminal A. Sie verpackt rote Mäschchen und CDs in Schachteln – alles schön sortiert. Schokolade ist keine mehr übrig. 44'097 Franken brachte die Sammlung. «Ein Erfolg. Ich habe gezeigt, dass man etwas bewirken kann.» Die Swissair-Frau erhielt keine Kündigung, «aber ich werde zurückgestuft, bin nicht mehr Maître de Cabine». Sie muss jetzt mit weniger Lohn auskommen. «Die Firma ist immer für uns da gewesen.» Und jetzt? Keine Antwort.

«Wir leben in der Legende, die man um uns gemacht hat», schrieb Peter Bichsel über die Schweiz.