«Was soll das Chaos? Ihr räumt ja den Wald nicht mehr auf! Dann habt ihr bald einen Haufen Schädlinge.» Solche empörten Aussagen musste sich Mani Uhlmann früher ab und zu anhören. Uhlmann ist seit 18 Jahren Ranger im Naturerlebnispark Sihlwald, unweit der Stadt Zürich. Das rund 1100 Hektar grosse Naturwaldreservat liegt zwischen der Albis- und der Zimmerbergkette und ist der grösste zusammenhängende Buchenmischwald 
im Schweizer Mittelland. Seit der Jahrtausendwende wird dort keine wirtschaftliche Holznutzung mehr betrieben, seit 2007 ist der Sihlwald offiziell ein Naturwaldreservat. 

In den vergangenen Jahrhunderten lieferte er vor allem Nutz- und Brennholz für die Stadt Zürich. Er wurde intensiv bewirtschaftet, sogar Bahnlinien gab es mitten in den Wald hinein, damit man das geschlagene Holz heraustransportieren konnte. 

Daheim im toten Baum

Heute darf sich die Natur ungestört entwickeln. Dicke Äste und moosbewachsene tote Baumstämme liegen herum, Wurzelteller von umgefallenen Bäumen ragen in die Luft. Der Sihlwald ist auf dem Weg zurück in seinen ursprünglichen, urwaldähnlichen Zustand. 

«Vor allem für ältere Generationen ist das gewöhnungsbedürftig. In der Nachkriegszeit war es selbstverständlich, das Holz aus dem Wald zu nutzen und zu Geld zu machen. Mit einer dicken alten Buche konnte man Tausende Franken verdienen. Den Baum einfach stehen und schliesslich verrotten zu lassen, ist für sie eine Sünde», erklärt Uhlmann. 

Was viele nicht wissen: Totes Holz ist keineswegs unnütz, sondern trägt wesentlich zur Biodiversität und zu einem intakten Waldökosystem bei. Das Chaos ist für die Natur überlebenswichtig. Jede vierte im Wald lebende Art ist darauf angewiesen. 

Naturwaldreservat Sihlwald: Seit 20 Jahren wird das Holz nicht mehr wirtschaftlich genutzt.

Totes Holz im Sihlwald
Quelle: Bruno Augsburger

Tote Bäume sind für eine ganze Reihe von Lebewesen ein Zuhause. Je nach Zersetzungsgrad fühlen sich immer wieder andere Arten in ihnen wohl. Wenn Bäume von Pilzbefall geschwächt sind, freut das zuerst 
den Specht. So lassen sich einfacher Bruthöhlen ins Holz hacken, die wiederum später von anderen Vögeln, aber auch von Fledermäusen, Siebenschläfern, Eichhörnchen oder Mardern besiedelt werden. Larven entwickeln sich unter der nahrhaften Rinde des sterbenden Baums zu Käfern. Fällt die Rinde ab und der Baum um, kommen andere Käfer 
und Pilze, bis sich das Holz beinahe vollständig zersetzt hat und sich 
nur noch Tausendfüssler und Regenwürmer dafür interessieren. Während sich der Baum langsam auflöst, wandern die Lebewesen von einem Habitat zum nächsten. «Sie sind mobiler, als man vielleicht denken würde», sagt Thibault Lachat, Professor für Waldökologie an der Berner Fachhochschule.

Speichern, kühlen, isolieren

Herumliegende grosse Baumstämme erfüllen aber auch andere wichtige Funktionen im Wald. Sie speichern zum Beispiel Wasser. Wenn es regnet, saugen sie sich voll wie ein Schwamm und dienen in Trockenperioden als überlebenswichtiges Wasserreservoir und als Klimaanlage für den Wald. Das Laub isoliert zudem den Boden, damit der Wind ihn nicht austrocknet. «Eine dicke vermodernde Schicht ist super für den Wald», sagt Ranger Mani Uhlmann. «Sie liefert auch wichtige Nährstoffe.»

«In den letzten 30 Jahren hat sich das Totholz in der Schweiz mehr als verdoppelt», sagt Lachat. Das ist gut für die Xylobionten, also Lebewesen, die von Totholz abhängig sind. Während sich die Situation für viele andere Arten Insekten Das stille Sterben verschlechtert, «haben Xylobionten heute mehr Lebensraum», sagt der Waldökologe. « Das wirkt sich bereits positiv auf einige Arten aus.»

Nach wie vor sind aber sehr viele holzbewohnende Käfer bedroht. 2016 gab der Bund erstmals eine Rote Liste heraus und stellte mit Besorgnis fest, dass 46 Prozent der bewerteten Käfer gefährdet, weitere 18 Prozent potenziell gefährdet sind. «Das liegt wahrscheinlich daran, dass es während der intensiven Waldnutzung nur sehr wenig Totholz gab. Auch heute reicht die Menge noch nicht aus, es fehlen vor allem grosse tote Baumstämme. Viele Arten haben wir womöglich verloren, ohne es überhaupt zu wissen. Die findet man heute vielleicht nur noch im grössten übrig gebliebenen Urwald Europas in der Ukraine», sagt Lachat, während er unter einem Stück Rinde eines toten Baums eine Feuerkäferlarve beobachtet.

Totes Holz ist quicklebendig: 
Aus dem Baumstamm wachsen Pilze.

Pilze Totholz
Quelle: Bruno Augsburger

Mit einem Forscherteam hat er in den letzten drei Jahren die Biodiversität im Sihlwald untersucht und den Grundstein für eine Langzeitbeobachtung gelegt. Sie fanden über 1000 Arten von Käfern, Pilzen, Moosen und Flechten, die von Alt- oder Totholz leben. Diese Vielfalt sei an sich nicht aussergewöhnlich für einen Buchenwald im Schweizer Mittelland. Aussergewöhnlich sei aber, dass man schon nach zwei Jahrzehnten ohne Waldbewirtschaftung 20 Arten nachweisen konnte, die normalerweise nur in natürlichen Buchenwäldern und Urwäldern leben. Darunter den Käfer Abraeus parvulus, eine Urwaldreliktart. Oder die Zitronengelbe Tramete, ein Pilz, der bisher nur sechs Mal in der Schweiz nachgewiesen wurde. Das geschützte Grüne Koboldmoos und eine Flechte, die hierzulande seit 15 Jahren als ausgestorben galt. Das zeige das grosse Potenzial des Sihlwalds als Naturwaldreservat. 

Stürme hinterlassen viel Totholz

«Wir hoffen, dass in Zukunft noch mehr Urwaldreliktarten ihren Weg zurück in den Sihlwald finden», sagt Lachat. Etwa der Alpenbock, laut Lachat 
der «vielleicht schönste Käfer der Schweiz». Der Bestand des blau-schwarzen Käfers hat sich hierzulande punktuell erholt, und man sieht ihn im Jura oder in den Voralpen. «Als der Sihlwald noch ein echter Urwald war (siehe Urwälder und Waldreservate), gab es den Alpenbock bestimmt auch hier», sagt der Waldökologe.

Gründe für die schweizweite Zunahme an Totholz gibt es viele. Immer mehr Waldeigentümer lassen auch in bewirtschafteten Wäldern tote Bäume stehen, weil sie wissen, wie wichtig das für einen intakten Wald ist. Ein weiterer Faktor sind grosse Stürme. Als etwa Lothar Ende 1999 über die Schweiz fegte, hinterliess er viel totes Holz. «Damals explodierte die Biodiversität auf den Sturmflächen förmlich», erinnert sich Lachat. Nicht zuletzt sorgen die tiefen Preise am Holzmarkt dafür, dass es oft mehr kostet, einen Wald zu bewirtschaften, als ihn einfach sein zu lassen.

Auch einige Spechtarten haben davon profitiert. «Viele Arten, die in Wäldern leben, haben sich vermehrt. Das führen wir auf die Ausbreitung der Wälder und die Zunahme von Totholz zurück», sagt Livio Rey, Mediensprecher der Vogelwarte Sempach. In absterbendem und totem Holz leben viele Käfer, Larven und Ameisen, von denen sich beispielsweise der Schwarzspecht und der Dreizehenspecht ernähren. Auch der sehr seltene und äusserst anspruchsvolle Weissrückenspecht frisst bevorzugt Larven von Totholzinsekten. 1996 wurde hierzulande der erste Weissrückenspecht gesichtet, heute leben rund 20 bis 30 Paare in der Schweiz. Vielleicht findet er dereinst auch den Weg in den Sihlwald.

Urwälder und Waldreservate

Richtige Urwälder, also Wälder, die nie oder kaum durch menschliche Eingriffe in ihrer Entwicklung gestört wurden, gibt es in Europa nur noch selten. Die grössten Urwaldüberreste sind in den Karpaten in Mittel- und Osteuropa zu finden. In der Schweiz gibt es drei Urwaldfragmente: den Fichtenwald von Scatlè in der Surselva, den Wald von Derborence im Unterwallis und den Bödmerenwald im Muotatal. 

Waldreservate machen heute 6,3 Prozent der gesamten Schweizer Waldfläche aus. Grosse Reservate mit über 500 Hektaren gibt es 26. Dabei handelt es sich teils um Naturwaldreservate, in denen ganz auf forstliche Eingriffe verzichtet wird, und teils 
um Sonderwaldreservate, in denen gezielt eingegriffen wird, um bedrohte Arten zu fördern. 

Der Bund will den Anteil von Waldreservaten bis 2030 auf 10 Prozent der Waldfläche ausweiten. Willige Waldbesitzer müssen sich für mindestens 50 Jahre verpflichten, ihren Wald der Natur 
zu überlassen. Dafür bekommen sie eine Entschädigung. «Nicht alle Waldbesitzer wollen diesen Schritt gehen. Im Mittelland, wo die Wälder intensiver genutzt werden, ist die Bereitschaft oft kleiner als in unwegsamen und wirtschaftlich weniger interessanten Alpengebieten», sagt Claudio De Sassi vom Bundesamt für Umwelt. «Die in der Regel viel kleineren Waldparzellen im Mittelland machen es noch schwieriger, grossflächige Reservate auszuscheiden.» Entsprechend ungleich verteilt sei die Waldreservatsfläche in der Schweiz. Im Mittelland herrscht das grösste Defizit. Deshalb sei der Sihlwald ein Glücksfall: ökologisch wertvoll, gross und genau dort, 
wo man ihn braucht.

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