Ein grossgewachsener Holländer steht im Sommer 1993 mitten in einem fast undurchdringlichen Sumpfwald an der Westküste Sumatras. Der Forscher schreibt euphorisch in sein Notizbuch: «Wir haben hier die höchste Dichte von Orang-Utans, die je gefunden wurde!» Kurz darauf beschliesst er, mit einem Team von Einheimischen eine Forschungsstation aufzubauen. Es ist der Beginn einer aufsehenerregenden Arbeit, die Carel van Schaik berühmt machen wird. Denn im Küstenwald von Suaq Balimbing kann der Wissenschaftler erstmals nachweisen, dass Orang-Utans Werkzeug benutzen – und dass sie wie wir Menschen verschiedene Kulturen ausbilden. Später werden seine Beobachtungen sogar zur Grundlage einer eigenen Theorie der menschlichen Evolution.

Carel van Schaik, der heute das Anthropologische Institut der Universität Zürich leitet, erinnert sich lebhaft an die «grüne Hölle»: Das Team hatte sein Lager am Lembang-Fluss aufgeschlagen. Täglich gingen Schauer nieder, Heerscharen von Mücken, Blutegeln und Gifttieren erschwerten die Arbeit. Immer wieder trafen die Biologen auf Tigerspuren. Und immer wieder wurden sie krank. «Manchmal brachen wir fast zusammen, so anstrengend war alles», erzählt van Schaik.

Doch die Orang-Utans entschädigten die Wissenschaftler für die Qualen. «Es ist ein unglaubliches Gefühl», sagt Carel van Schaik, «wenn du allein im Urwald stehst und einen 90-Kilogramm-Orang-Utan dabei beobachtest, wie er ganz entspannt durch die Bäume hangelt.» Geradezu herzerwärmend sei es gewesen, als ein junger Affe mit den Forschern spielen wollte und sie deshalb mit Ästen bewarf. Als Carel van Schaik dann beobachten konnte, wie ein Affe ein Stöckchen als Werkzeug benutzte, war er vollends hingerissen. «Man reibt sich die Augen und fragt sich: Habe ich das jetzt wirklich gesehen?»

Später konnte van Schaiks Team 42 verschiedene Verwendungszwecke von Werkzeug identifizieren. So angeln die Orang-Utans mit Ästchen Termiten aus ihren Nestern oder holen Honig aus Bienenstöcken. Sie setzen Holzstücke als Messer, Kratzwerkzeug oder Sexspielzeug ein und verwenden auch Blätter vielseitig: Sie formen Trinkhalme, Handschuhe, Löffel und Taschentücher oder halten sich ein gerolltes Blatt als «Megaphon» vor den Mund. Auch bei der Fischjagd mit dicken Knüppeln wurden die Affen schon beobachtet.

Carel van Schaik wollte ausserdem wissen, ob die Orang-Utans eine Art Sprache kennen. Nur gerade 23 Lautäusserungen lernte er im Lauf der Jahre zu unterscheiden – für van Schaik eine leise Enttäuschung. Auffällig war jedoch, dass die Menschenaffen je nach Ort andere Laute verwendeten: «Während die einen beim Nestbau ein schmatzendes Geräusch von sich gaben, verhielten sich die Affen an einem anderen Ort komplett ruhig. In anderen Populationen wiederum hörte man einen Laut, der an ein Furzen erinnert», erzählt van Schaik. Später fand er heraus, dass es sich nicht um genetische Differenzen, sondern um richtige Kulturformen handelt. «Die Populationen haben ihre eigenen Dialekte erfunden, die die Kinder von ihren Eltern lernen.»

Noch bis in die 1970er Jahre wusste man fast nichts über die Orang-Utans. Zwar waren sie die Attraktion vieler Zoos – doch wie sie in freier Wildbahn lebten, hatte bis dahin niemand erforscht. Man ging davon aus, dass die Affen asoziale Einzelgänger seien. Ein Fehler, wie Carel van Schaik bald herausfand: Er beobachtete nämlich, dass die Orang-Utans alle Artgenossen in ihrem Gebiet sehr genau kennen und mit ihnen komplexe Beziehungen pflegen. Zwar gehen die Tiere meist allein auf Futtersuche, doch auf den Futterbäumen treffen sie sich immer wieder zu eigentlichen «Partys».

Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB
Junge schauen alles der Mutter ab

Carel van Schaik verbrachte insgesamt sechs Jahre bei den Affen von Suaq Balimbing. Mit der Zeit kannte auch er beinahe jeden Baum im Gebiet. Das Forscherteam begann, die Wege zu den wichtigsten Futterbäumen mit Holzplanken zu befestigen, und kostete auch selber von den Früchten und Kräutern, die der Wald hergab. Gleichzeitig gaben die Orang-Utans im Lauf der Jahre immer wieder neue Geheimnisse preis. Aufschlussreich war, zu beobachten, wie sich Jungtiere Wissen aneignen: Sie weichen kaum von der Seite der Mutter und schauen ihr alles ab. «Die Orang-Utans kommen wie wir Menschen dumm zur Welt», sagt van Schaik. «Sie können nichts und müssen in den ersten vier bis fünf Jahren alles erlernen.» So etwa, welche Früchte und Blätter geniessbar, welche giftig sind – bei rund 4000 Pflanzen. Oder welche Kräuter gegen Kopfschmerzen oder Müdigkeit helfen.

Treffen sich zwei Mütter mit ihren Kindern, beginnen die Jungen sofort miteinander zu spielen. Schon im jungen Alter entwickeln sie eine enorme Kraft; nie würden sie bei ihren Kletterübungen zu Boden fallen. Das wäre auch gefährlich: Tiger warten nur darauf, dass ihnen ein Affe vor die Pranke gerät.

Die Orang-Utan-Knaben gehen im Spiel deutlich rauer zur Sache als ihre Schwestern: Sie balgen sich gerne und üben so spielerisch den Kampf. Die Mädchen sondern sich dann ab und üben etwa, wie man ein Schlafnest baut.

Sozial: Dieses Weibchen hat in Gefangenschaft ein zweites Junges angenommen, das von der Mutter verstossen wurde.

Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB
Am attraktivsten ist der Boss

In die Pubertät kommen die «Waldmenschen» – was das malaiische Wort Orang-Utan übersetzt bedeutet – erst mit zehn bis zwölf Jahren. Die jugendlichen Weibchen bleiben meist in der Umgebung, die Männchen versuchen ihr Glück anderswo. Ziel der Junggesellen ist es nun, sich zu paaren was aber nicht einfach ist, denn die Weibchen haben bloss Augen für einen: für das dominante Männchen mit den Backenwülsten.

Carel van Schaik glaubt den Grund zu wissen: «Die Weibchen paaren sich wohl mit dem Alphatier, weil sie dafür Schutz von ihm erhalten.» Schutz vor jüngeren Männchen, die umhervagabundieren und manchmal Babys töten. «Infantizid», so van Schaik, «gibt es nicht nur bei Löwen oder Schimpansen, sondern auch bei Orang-Utans.»

So grausam es klingt – aus evolutionistischer Sicht ist das Töten fremden Nachwuchses manchmal sinnvoll: Im Sozialsystem der Orang-Utans ist die brachiale Methode für manche Männchen der einzige Weg, ihre Gene weiterzugeben. Solange ein Weibchen ein Junges aufzieht, hat es keine Lust auf Sex. Wird das Jungtier erwachsen, läuft wieder nichts, da die Mutter sofort die Nähe zum dominanten Männchen sucht. Gelingt es einem Nebenbuhler aber, ein Baby zu töten, steigt seine Chance, sich mit der Mutter zu paaren. So weit die Theorie – genau untersucht ist das Phänomen Infantizid bei den Orang-Utans nicht.

Belegt ist, dass junge Männchen immer wieder Weibchen vergewaltigen, vor allem auf Borneo. «Überhaupt scheinen die Borneo-Tiere viel aggressiver zu sein als die Sumatraner», resümiert Carel van Schaik. Auf der Suche nach kulturellen Unterschieden hat er auf beiden Inseln zehn weitere Populationen besucht. «Die Borneo-Tiere waren auch gegenüber uns Forschern um einiges aggressiver.»

Zu schlimmen Unfällen kam es dennoch nie. «Wenn ein Orang-Utan angreift, kommt es sehr darauf an, wie man reagiert», sagt van Schaik. Am besten sei es, stehenzubleiben und wegzuschauen; keinesfalls aber solle man sich hinlegen. Eine Studentin habe diesen Rat einmal missachtet und sich aus Angst auf den Boden gelegt der zottelige Macho ging zu ihr und zerwühlte ihr eine halbe Stunde lang die Haare. «Sie hatte Glück. Einen Mann hätte der wilde Kerl wohl angegriffen.»

Heute werden die Orang-Utans auf Borneo als eigene Art betrachtet – nicht zuletzt wegen des Teams um van Schaik, das sowohl kulturelle als auch genetische Unterschiede fand. Augenfällig waren die kulturellen Differenzen nicht nur bei der Sprache, sondern vor allem beim Werkzeuggebrauch. So waren viele Techniken nicht in allen Gebieten bekannt. «Ein klarer Hinweis auf Kultur, wie wir sie auch beim Menschen kennen», sagt Carel van Schaik.

All dieses Wissen ist für den Forscher noch heute von enormer Bedeutung. Denn als Anthropologe möchte van Schaik herausfinden, wie sich vor zwei Millionen Jahren der Mensch entwickeln konnte. Anhand der Beobachtungen bei den Orang-Utans hat van Schaik seine vor kurzem veröffentlichte Theorie zur Steigerung der Lernfähigkeit bei unseren Urahnen formuliert.

Eine Voraussetzung für den Wissenssprung unserer Vorfahren war laut Carel van Schaik nämlich, dass sie begannen, ihren Kindern aktiv Dinge beizubringen. «Die Menschenaffen tun dies seltsamerweise nicht», so van Schaik. «Die Affenkinder schauen ihren Eltern zwar alles ab, doch die Eltern zeigen ihnen nichts aktiv.» So aber sei der Wissenstransfer nur begrenzt möglich – und die Affen hatten damit auch keinen Grund, grössere Gehirne zu entwickeln.

Orang-Utans in Zoos sind cleverer

Aktives Lehren konnte sich indes erst entwickeln, als unsere Vorfahren begannen, ihre Kinder gemeinschaftlich aufzuziehen. «Kooperation und soziales Verhalten sind der Schlüssel für die Evolution von Intelligenz», lautet deshalb van Schaiks These. Ebenso wichtig war, dass der Urmensch von den Bäumen stieg, um am Boden zu leben. «Während Orang-Utans ihr Stöcklein nach Gebrauch auf den Boden fallen lassen und die Jungen nicht mehr damit üben können, ist es bei den Schimpansen, die am Boden leben, anders: Die Jungen stürzen sich auf das Werkzeug und üben die Handgriffe sofort spielerisch ein.»

Wozu Orang-Utans fähig sind, wenn ihnen Wissen beigebracht wird, hat der Forscher in Zoos und Orang-Utan-Statio-nen beobachtet. «Von Menschen aufgezogene Affen sind viel intelligenter als wildlebende», sagt er. Da sie keine Angst vor Tigern haben müssten, seien sie viel neugieriger und erfinderischer. Und sie schauen sich vom Menschen alles ab: Sie drehen Schlüssel im Schloss, öffnen Dosen, spülen Geschirr, waschen Wäsche oder wischen einen Weg. «Spätestens dann beginnen sich die Unterschiede zwischen uns und den Menschenaffen definitiv zu verwischen», sagt Carel van Schaik schmunzelnd.

Unsere nächsten Verwandten

Die afrikanischen Menschenaffen leben alle im tropischen Zentrum des Kontinents. Gorillas, Schimpansen und die mit ihnen nah verwandten Bonobos sind in ihren natürlichen Habitaten bedroht. Allen gemeinsam ist eine im Tierreich einmalig hohe Intelligenz.

Schimpanse
Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB

(Pan troglodytes)

Grösse/Gewicht: rund 80 cm/30–60 kg

Lebenserwartung: 40–45 Jahre

Lebensraum: Wälder und Savannen Westafrikas

Nahrung: vor allem Früchte, aber auch andere pflanzliche Kost sowie Fleisch (auch eigentliche Treibjagden auf andere Affenarten wurden schon beobachtet)

Lebensweise: Schimpansen leben in Gruppen von bis zu 60 Tieren, am Boden und auf Bäumen; sie haben ein patriarchalisches, sehr komplexes Sozialsystem. Die Kommunikation erfolgt durch ein breites Spektrum an Gesichtsausdrücken, Lauten und Gesten. Sie nutzen viele, auch selbst gefertigte Werkzeuge.

Bestand: rund 200'000

Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB
Gorilla

Westlicher Gorilla (Gorilla gorilla) Östlicher Gorilla (Gorilla beringei)

Grösse/Gewicht: Männchen rund 170 cm/180 kg Weibchen rund 150 cm/70–100 kg

Lebenserwartung: 40 Jahre

Lebensraum: unterschiedliche Waldtypen Zentralafrikas, bis 3000 Meter über Meer<br />Nahrung: rein pflanzlich, aber kaum Früchte

Lebensweise: Gorillas halten sich vorwiegend am Boden in Gruppen von bis zu 40 Tieren auf, geführt von einem dominanten Männchen (Silberrücken).

Bestand: 100'000 - 130'000; besonders bedroht sind die rund 780 Berggorillas (Unterart des Östlichen Gorillas) und die rund 250 Cross-River-Gorillas (Unterart des Westlichen Gorillas).

Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB
Bonobo
Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB

«Zwergschimpanse» (Pan paniscus)

Grösse/Gewicht: Männchen rund 90 cm/40 kg Weibchen rund 70 cm/30 kg
Lebenserwartung: 40 Jahre

Lebensraum: sumpfiger Regenwald in der Demokratischen Republik Kongo

Nahrung: Früchte und andere pflanzliche Nahrung, aber auch Insekten und kleine Säuger

Lebensweise: Bonobos sind häufiger am Boden als Schimpansen und gehen oft aufrecht. Sie besitzen eine friedliche, matriarchalische Sozialstruktur; die Sexualität dient auch der Stärkung des Zusammenhalts und der Konfliktlösung.
Bestand: 50'000 - 100'000

Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB
Orang-Utan
Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB

Borneo-Orang-Utan (Pongo pygmaeus) Sumatra-Orang-Utan (Pongo abelii)

Grösse/Gewicht: Männchen rund 100 cm/90 kg, Weibchen rund 80 cm/40 kg

Lebenserwartung: 50–60 Jahre

Lebensraum: Tiefland-Regenwälder und Sumpfwälder bis auf 300 Metern über Meer

Nahrung: Früchte, aber auch Blätter, Honig, Insekten oder grössere Tiere

Lebensweise: Orang-Utans verbringen die meiste Zeit auf Bäumen. Ihre geruhsame Existenz erlaubt es ihnen, mit einem extrem tiefen Energiebedarf zu überleben.

Bestand: 5000 Tiere leben auf Sumatra, 40'000 bis 50'000 auf Borneo.

Während der Eiszeiten, nach der Besiedlung der indonesischen Inseln durch den Menschen, standen die Orang-Utans mehrmals kurz vor dem Aussterben.

Quelle: Anup Shah/Corbis/RDB

Weitere Infos

www.paneco.ch
www.bos-schweiz.ch
www.orangutan.org

Buchtipp
Gerd Schuster, Willie Smits: «Die Denker des Dschungels. Der Orangutan-Report»; Ullmann-Verlag, 2007, 320 Seiten, 26.90 CHF