So nah war er dem Luchs noch nie: Im März 2020, mitten in der Nacht, zeichnet Laurent Geslin im Neuenburger Jura das «Singen» des Luchses auf – die klagenden Rufe, mit denen Weibchen und Männchen sich in der Paarungszeit verständigen. Stundenlang schon liegt er im Schlafsack auf einem Waldweg, als er über die Kopfhörer ein Rascheln und Knacken hört, das immer lauter wird. 

Geslin realisiert: Der Luchs läuft direkt auf ihn zu. Er wagt kaum zu atmen. «Dann hörte ich plötzlich ein raues, abgehacktes Röcheln.» Das Tier schnuppert am Trichter seines Richtmikrofons. Und da sieht er ihn. «Am Fussende meines Schlafsacks zeichnete sich vor dem Mond die Silhouette ab.» Ihm stellen sich alle Haare auf. «Einen Moment lang hatte ich Angst.»

 

Laurent Geslin arbeitete sieben Jahre am Kinofilm

Dabei kennt der 49-Jährige die Raubkatze fast so gut, als wärs sein Haustier. Während zwölf Jahren beobachtete er das «Phantom der Wälder», eines der seltensten und scheusten Wildtiere der Schweiz. Die letzten sieben Jahre hat er für sein Kinofilmdebüt «Lynx – Luchs» ihr Verhalten festgehalten.

Er weiss eigentlich, dass der Luchs dem Menschen nichts antut. In seinem Film sieht man gar, wie ein Luchs ein Reh ausweidet – und seelenruhig weiterfrisst, als sich ihm zwei Spaziergänger nähern. Und trotzdem fürchtet sich einer wie er? «Da haben einfach meine Instinkte reagiert.»

«Die Kinobesucher können sich wohl kaum eine Vorstellung davon machen, wie lange ich für einige Szenen dasass.»

Laurent Geslin, Wildtierfotograf und Filmemacher

Ich möchte wissen, wie Laurent Geslin die scheuen Tiere aufspürt. Im Juragebirgszug leben rund 150 Tiere. Ein riesiges Gebiet, das sich auf der Schweizer und der französischen Seite über 22000 Quadratkilometer erstreckt. Ich verabrede mich mit dem gebürtigen Bretonen in St-Aubin, am nördlichen Ufer des Neuenburgersees, in der Nähe seines Wohnorts. Das Filmprojekt ist beendet, die Fotofallen sind abgebaut, die Tarnnetze eingerollt.

«Einen halben Tag können Sie mitkommen, mehr Zeit habe ich nicht», sagt Geslin. Ich habe etwas Bedenken: Werde ich in dieser kurzen Zeit verstehen können, was er über zwölf Jahre perfektioniert hat – das Fährtenlesen? Oder wird das eher einem Besuch im Museum gleichen, wir klappern die Orte ab, wo er den Luchs gefilmt hat, und er erzählt mir seine Anekdoten?

Augen wie ein Luchs, um die Tiere aufzuspüren

Kaum haben wir in seinem Fiat Panda die Anhöhen des Juras erklettert, sind die Bedenken weggewischt. Geslin lehnt nicht mehr bequem im Sitz, er sitzt kerzengerade, die Brust fast am Steuer. Plötzlich bremst er abrupt, setzt zurück, lässt die Scheibe runter, prüft eine Fährte am Wegrand. «Ah, nein, das war ein Fuchs.» Weiter gehts – bis zum nächsten scharfen Bremsmanöver.

Dann haben wir unser erstes Ziel erreicht. Wir stapfen los. Die Füsse graben knietiefe Löcher in die weisse Decke, der Wind treibt kleine Schneewirbel drüber. «Eine Spur», sagt Geslin und zeigt auf einen handtellergrossen Kreis. Ich erkenne nichts. Vermutlich eine Gämse, meint er. «Der Wind weht die Spur rasch zu – unmöglich zu erkennen, zu welchem Tier sie gehört.» 

Auf einer Aussichtsplattform sehen wir Tatzenabdrücke im Schnee. Sie sind etwas deutlicher erkennbar. «Eine Wildkatze, sie ist wohl kurz vor unserer Ankunft durchgelaufen», vermutet Geslin. Dann schaut er auf das gegenüberliegende Felsband. Seine Augen verengen sich zu Schlitzen, er zückt sein Fernglas. «Da oben sind zwei Gämsen.» 

Es ist mir ein Rätsel, wie Geslin die Tiere entdeckt. Alles, was nicht weiss ist, sieht für mich nach Fels und Bäumen aus. Hat er Augen wie ein Luchs? Er leiht mir sein Fernglas. Das Bild wackelt, ich schwenke hin und her, bis mir fast übel wird – und finde die Gämsen nicht. Doch dann entdecken wir unten im Wald zwei weitere, sie äsen. Endlich ein Erfolgserlebnis! Manchmal sehe man hier auch Steinadler, sagt Geslin. Heute nicht.

Ein Biss durch die Kehle

In diesem Gebiet habe er den Luchs oft angetroffen. «Ich habe beobachtet, wie er die Gämsen etwas oberhalb ihrer Schlafplätze abgepasst hat.» Wenn sie weggehen, schleicht er sich an, legt einen Sprint über 10, 20 Meter hin, bevor er das Tier mit einem Biss durch die Kehle erlegt.

Wir verlassen das Tal. «Mit diesem Wind werden wir hier keine Fährten mehr finden», sagt er. Wir fahren um den Hügelzug und nähern uns von der anderen Seite. «Als Kind habe ich von der Wiederansiedlung der Luchse gehört. Seither bin ich fasziniert von diesen Tieren», erzählt Geslin unterwegs. Sein Vater nahm den jungen Laurent oft mit auf Streifzüge und legte damit den Grundstein für seine Liebe zur Natur. Später studiert Geslin Kunstgeschichte, entdeckt die Fotografie und macht sich einen Namen als Tierfotograf. Als vor zwölf Jahren «National Geographic» anklopft und nach Luchsbildern fragt, ist Geslin sofort begeistert. 

Die Tiere sollen ungestört bleiben

Er beginnt, nach Trittsiegeln im Schnee zu suchen, installiert Fotofallen, schnüffelt an Felsen und Holzstapeln nach Katzenurin. Oder er durchforstet die Wälder nach totem Wild: Wenn der Luchs Beute macht, frisst er über mehrere Tage davon und deckt sie zwischendurch mit Laub zu. 

Am Anfang macht er auch Fehler. «Ich bin der Fährte so lange gefolgt, bis ich fast über den Luchs gestolpert wäre – und habe ihn vertrieben.» Dabei ist es ihm ein Anliegen, das Tier nicht zu stören. Er verfeinert seine Taktik: Wenn er eine frische Fährte findet, versucht er vorherzusehen, welche Route der Luchs nehmen wird.

Der Luchs legt meist abends oder nachts weite Strecken zurück. Ginge ein Weibchen durch sein ganzes Revier, hätte es die Innenstadt Zürichs und alle Aussenquartiere durchquert. Ein Männchen das gesamte Fürstentum Liechtenstein. Geslin läuft oder fährt darum oft grosse Strecken und nähert sich dem Punkt, von dem er glaubt, dass der Luchs ihn passieren wird.

So lernt er die Luchsrouten mit der Zeit immer besser kennen. Er installiert sein Tarnnetz an diesen Plätzen, harrt dann stundenlang. «Ich glaube, die Kinobesucher können sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie lange ich für einige Szenen dasass.» Einen Luchs zum Beispiel beim Jagen zu beobachten, brauche extrem viel Geduld.

«Meine Frau versteht meine Leidenschaft, sie nimmt es mir nie übel, wenn ich in etwas unpassenden Momenten weg bin.»

Laurent Geslin

Manchmal werden aus Stunden unverhofft Tage. Es war Ende August, als er einen Luchs gefilmt hatte und zusammenpacken wollte. Da bemerkt er, dass die Zitzen des Tiers geschwollen sind. «Ein Weibchen mit Jungen – eine Sensation für mich!» Er teilt seiner Frau mit, dass er im Wald übernachten werde. Wohl wissend, dass in zwei Tagen ihr Geburtstag ist. «Diese einmalige Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen.» 

Am Ende sitzt Geslin fünf Tage im Wald, die Party seiner Frau ist vorbei, die Freunde aus Paris sind längst abgereist. «Meine Frau versteht meine Leidenschaft, sie nimmt mir solche Dinge nie übel.» Doch einige Freunde und Bekannte hätten wenig Verständnis, es sei schon zu Zerwürfnissen gekommen. 

Luchse werden Opfer von Wilderern

Das Warten hat sich gelohnt. «Am zweiten Tag kam die Katze mit drei Jungen aus dem Bau.» Noch nie zuvor ist ihm eine solche Aufnahme gelungen. «Es war ein überwältigender Moment. Und er bedeutet mir bis heute sehr viel.»

Umso schmerzhafter für den Fotografen, als ihm ein befreundeter Wissenschaftler einige Monate später mitteilt, das Weibchen sei wohl tot. Anhand der individuellen Fellzeichnung, die jeder Luchs hat, identifizierte Geslin es zweifelsfrei als «seine» Luchsmutter. Im Körper steckten unzählige Bleikugeln. Auch ein zweites Tier, das er über mehrere Monate beobachtete, wurde im Oktober 2020 Opfer eines Wilderers.

Ein Beitrag zur Verständigung

Der Luchs ist in der Schweiz geschützt, ihn zu töten eine Straftat. Einen generellen Groll gegenüber Jägern hege er nicht, sagt Laurent Geslin. Häufig werde er auch von Jagdgesellschaften als Gastredner eingeladen. «Nur wenn Naturschützer, Jäger und Viehzüchter alle miteinander reden, können wir tragfähige Lösungen finden.»

Einem Jäger begegnen wir an diesem Morgen nicht. Dafür aber Spuren von Wildschweinen und von einem Fussgänger mit Hund. Die Zickzacklinie im Schnee verrät, dass der Hund hier und da schnüffelte. Dann tauchen an einer Weggabelung plötzlich grosse Pfotenspuren auf, die in einer geraden Linie schnüren und schliesslich zu einem Holzstapel führen. Geslin steigt vorsichtig über die Fährte und reckt den Hals. «Ganz eindeutig: Das war ein Luchs.» Ich freue mich, als hätte ich tatsächlich einen Luchs gesehen.

Und plötzlich ist der halbe Tag auch schon vorbei. Er müsse gleich los, um in einem französischen Kino dem Publikum von seiner Arbeit zu erzählen, sagt Geslin. Er möchte, dass wir den Luchs durch seinen Film besser kennenlernen und verstehen. «Denn nur was man kennt und liebt, ist man bereit zu schützen!»

Luchspopulation in der Schweiz

Grafische Darstellung der Entwicklung der Luchspopulation in der Schweiz.
Quelle: KORA | Infografik: Andrea Klaiber

254 Luchse lebten 2019 gemäss Schätzungen in der Schweiz, 75 davon im Jura und 179 in den Alpen.

Grafische Darstellung, wo sich in der Schweiz Luchse aufhalten.
Quelle: KORA | Infografik: Andrea Klaiber
Verluste

33 Verluste waren im Jahr 2020 zu verzeichnen – 30 Luchse starben, 19 davon waren Jungtiere. Drei Luchse wurden umgesiedelt. Das waren die Ursachen:

Grafische Darstellung der Verlustursachen der Luchse.
Quelle: KORA | Infografik: Andrea Klaiber
Filmtipp

«Lynx – Luchs», 82 Minuten, ab sechs Jahren. Drehbuch, Kamera und Regie: Laurent Geslin. Abendvorführungen meist auf Französisch mit deutschen Untertiteln, nachmittags Erzählsprache Deutsch, ab 24. Februar in den Kinos.

Luchs oder Hund? Wie man die Spuren unterscheiden kann

Grafische Darstellung von Luchs- und Hundespuren.
Quelle: WWF | Infografik: Andrea Klaiber

Luchse haben einen schnürenden Gang, das heisst, die Fährte verläuft meist in einer Linie. Die Zehenballen sind rund, die Krallen nicht sichtbar (ausser in steilem Gelände oder im Tiefschnee). Das äussere und das vordere Zehenpaar sind asymmetrisch angeordnet. Erwachsene Tiere haben einen Pfotendurchmesser von sieben bis neun Zentimetern.

Hundefährten verlaufen dagegen meist im Zickzack. Die Zehenballen sind symmetrisch angeordnet. 

Eine Fährte sollte man besser an unterschiedlichen Stellen begutachten, denn einzelne Trittsiegel können zu falschen Schlüssen führen.

Wichtig: Um die Tiere nicht zu stören, sollte man auf den Wegen bleiben – und sich ihnen nicht nähern.

Weitere Informationen
  • Informationen, welche Spuren auf den Luchs hinweisen der Raubtier- und Wildtiermanagement-Stiftung Kora: Luchs – Nachweise im Feld
  • Wer wissen will, in welchen Gebieten zuletzt Luchse gesichtet wurden, findet im Monitoring-Center der Kora (Kostenlose, Login-geschützter Bereich) Meldungen von Sichtungen der Grossraubtiere Luchs, Wolf, Bär, Goldschakal und Wildkatze. Zum Schutz der Tiere werden die Meldungen erst mit einiger Verzögerung und ohne detaillierte Ortsangaben publiziert

  • Der WWF führt in verschiedenen Regionen in unregelmässigen Abständen Luchsexkursionen durch. Informationen findet man unter dem Suchbegriff Luchs auf der Veranstaltungsseite des WWF. Für die Westschweiz ist aktuell ein Kurs ausgeschrieben

  • Weitere Informationen zum Luchs finden sich auch auf dem Steckbrief der Kora oder auf der Seite des WWF

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