Esther Geisser gehört zu der Sorte Mensch, die es keine Sekunde auf dem Sofa aushält, solange noch irgendwo auf der Welt ein Tier leidet. Tagsüber arbeitet sie als Personalchefin in einer grossen Firma, abends und an Wochenenden «mindestens noch einmal so viel» für die Tierschutzorganisation Network for Animal Protection (NetAP), die sie vor vier Jahren gegründet hat und der sie heute als Präsidentin vorsteht. Soeben ist sie mit einem Tross ehrenamtlicher Helfer im jurassischen Porrentruy angekommen. Um verwilderte Katzen zu kastrieren. Solche Aktionen sind für die 45-Jährige «Highlights»: «Nirgendwo sonst kann ich in so kurzer Zeit so viel Gutes tun.»

Porrentruy hat rund 6700 Einwohner, vor 30 Jahren waren es noch 1000 mehr. Eine arme Gegend. In leerstehenden Fabrikarealen und auf Bauernhöfen vermehren sich verwilderte Katzen unkontrolliert. Ferienhausbesitzer tragen zum Elend bei: Sie füttern die Streuner im Sommer aus Mitleid – und überlassen sie und ihren Nachwuchs im Winter sich selbst. Esther Geisser schätzt, dass es in der Schweiz über 100 000 herrenlose Katzen gibt. Und doch zeigen viele Tierschützer lieber mit dem Finger auf Länder wie Rumänien oder Thailand, als hierzulande etwas gegen das Problem zu tun. Später wird eine Helferin von einem Spendenaufruf für eine Kastraktionsaktion in der Schweiz erzählen – gerade mal 25 Franken seien auf dem Konto gelandet.

Im ehemaligen Transjurane-Pavillon, in dem sich die Bevölkerung einst über den Bau der Nationalstrasse A16 informieren konnte, warten bereits um die 60 Katzen, die von jurassischen Tierschützern eingefangen worden sind. Ein einzelnes durchdringendes «Miaaauuu» hängt in der Luft. Sonst ist es still. Geisser versammelt die sechs Tierärzte, die fünf Tierarztpraxisassistentinnen und sieben Helferinnen für ein letztes Briefing: Über 200 Katzen sollen am Wochenende kastriert werden, alle Tiere erhalten eine Vollnarkose, Antibiotika und Schmerzmittel. Ausserdem werden sie entwurmt und geimpft. Geisser erinnert die Helfer daran, dass «diese Tiere genau einmal im Leben von einem Tierarzt behandelt werden, nämlich heute». Jede Katze soll gründlich untersucht werden. «Wir können Abszesse behandeln, Zähne ziehen oder Gewehrkugeln entfernen, wenn es nötig ist.»

Henri Steinlin ist 64 Jahre alt und eigentlich Chemiker, aber heute ist er als Katzenfänger unterwegs. Er knallt den Kofferraumdeckel seines alten Citroën so lange zu, bis er endlich unten bleibt, und braust davon in Richtung Fregiécourt. Unterwegs zeigt er auf einen der grossen Ställe am Strassenrand, die man hier Hangar nennt. «Ideale Lebensräume für herrenlose Katzen.» Was mit all den unerwünschten Katzenbabys geschieht, davon weiss er haarsträubende Geschichten zu erzählen. Hunderte werden jedes Jahr getötet. Mit der Schaufel erschlagen, bei lebendigem Leib in der Tiefkühltruhe eingefroren. Ersäuft. Ausgewachsene Tiere, die sich im Wald verkriechen, werden vom Jäger geschossen. Damit sie sich nicht mit echten Wildkatzen paaren, die in den Wäldern des Jura leben. Es soll Bauern geben, die den Jäger einladen, damit er Katzen abknallt. «Anzeigen wegen Tierquälerei gibts kaum.»

Steinlins Auto hält vor dem klapprigen Hof von Maurice Fleury. Zwei Hunde reissen kläffend an ihren Ketten. Fleury, 65, trägt Zipfelmütze und Arbeitskleidung. Er hat von der kostenlosen Kastrationsaktion gehört und hofft nun, sein Katzenproblem in den Griff zu bekommen. Er holt die Fallen, die Steinlin tags zuvor in seinem Stall aufgestellt hat. Fünf schmutzige Fellknäuel schauen ängstlich durch die Gitter. «Es sind einfach zu viele», seufzt der Bauer und zündet sich eine Zigarette an. «Überall stinkt es nach Katzenscheisse.»

Vor dem alten Haus von Jacqueline Gigon, 69, flattert eine zerschlissene Schweizer Fahne im kalten Wind. Gigon trägt einen rosa Pulli mit Katzenmotiv und nur noch die obere Zahnreihe. Sie füttert die herrenlosen Katzen von Pleujouse, mittlerweile sind es über zehn. Nie könnte sie es sich leisten, den 130 bis 220 Franken teuren Eingriff bei einem Tierarzt vornehmen zu lassen. Drei Streuner sind in die Falle gegangen, immerhin.

Auf dem Rückweg hält Henri Steinlin vor der Tierauffangstation «Refuge La Claverie», die seine Lebenspartnerin in Courchavon aufgebaut hat. Vreni Loosli, 59, sieht erschöpft aus. Die ehemalige Krankenschwester ist Tag und Nacht mit der Flaschenaufzucht zweier Lämmlein beschäftigt, die sie halbtot gefunden hat. Im vergangenen Sommer hat sie 80 bis 90 Katzen versorgt. Sie weiss nicht, ob sie das noch mal durchstehen könnte. «Manchmal wird mir alles zu viel.»

Im Pavillon werden die Katzen für die Operation vorbereitet. Eine Praxisassistentin drückt sie in einem sogenannten Zwangskäfig mit einer verschiebbaren Wand ans Gitter, damit sie gefahrlos die Narkosespritze setzen kann. Schlafen die Tiere, streicht sie ihnen Salbe in die weit geöffneten Augen, damit diese während der Narkose nicht austrocknen. Sie schert den Weibchen den Bauch, den Katern zupft sie das Fell am Hodensack aus. Die Weibchen hängen bei der Operation mit den Hinterbeinen an einem Brett, damit der Arzt die Eierstöcke besser finden kann. Kater werden im Liegen kastriert.

Tierarzt Enrico Clavadetscher, 53, ist NetAP-Vorstandsmitglied und trägt die medizinische Verantwortung für die Aktion. Mit einem gezielten Schnitt öffnet er den Hodensack und drückt die murmelgrossen Bälle heraus. Zuerst die Samenstränge verknoten, dann – ratsch – die Hoden wegschneiden. «In nur fünf Minuten 500 Junge verhindert», freut er sich.

Esther Geisser macht eine abenteuerliche Rechnung: Wenn ein Weibchen jedes Jahr zwei Würfe mit je vier Jungtieren hat und sich ihre weiblichen Nachkommen ebenfalls in diesem Tempo vermehren, dann wären das rein mathematisch nach zehn Jahren 80 Millionen Katzen.

Clavadetscher schneidet die oberste Spitze des linken Ohrs ab, damit der Kater später schon von weitem als kastriert zu erkennen ist und nicht ein zweites Mal auf einem Operationstisch landet. Früher ermittelte Clavadetscher die Anzahl der durchgeführten Kastrationen anhand der abgeschnittenen Ohrspitzen. Heute werden die Katzen durchnummeriert. Aber aus den Hoden würden sie immer noch Halsketten machen, scherzt seine Assistentin, wohlwissend, dass solche Sprüche die Männer zusammenzucken lassen. Humor im Operationssaal. →

Geisser wurde Vegetarierin, als sie noch gar nicht wusste, was dieser Begriff bedeutet. Ein Jahr später, mit sieben Jahren, rettete sie ein erstes Bauernhofkätzlein vor dem Ersäufen und nahm es gegen den Willen ihrer Eltern bei sich auf. «In Bezug auf Tiere habe ich nie mit mir diskutieren lassen», sagt sie, als würde dies ihr unermüdliches Engagement erklären.

Esther Geissers engste Mitstreiter sind heute ihr Lebenspartner Bruno Mascello – der Anwalt wird am Sonntag mit dem Fotoapparat im Einsatz sein – und Enrico Clavadetscher. Der Vizepräsident der Gesellschaft Zürcher Tierärzte sagt über sich selbst, er gehöre nun mal zu den Tierärzten, «die Tiere gern haben». Die Zusammenarbeit mit Esther Geisser beschreibt er so: «Sie ist der Motor. Sie treibt mich ständig an.»

Eine struppige, weiss-graue Katzendame liegt jetzt auf seinem Tisch. Auch sie wird kastriert, nicht etwa sterilisiert. Im Gegensatz zur Sterilisation, zum Abbinden der Eileiter oder Samenleiter, werden bei einer Kastration die Eierstöcke oder Hoden ganz entfernt. Mit dieser Methode wird der Sexualtrieb der Tiere ausgeschaltet, was auch zur Folge hat, dass sich ihre Reviere verkleinern und Kämpfe seltener werden. Den Vorwurf, die Tiere würden so ihrer Sexualität beraubt, kontert Clavadetscher mit einer kleinen Nachhilfe in «Katzensex». Dieser dürfe nicht romantisch verklärt werden: «Vor allem für das Weibchen bedeutet die Paarung in erster Linie Stress.» Weil ein rolliges Weibchen gleich mehrere Kater mit ihrem Duft anlocke, käme es oft zu regelrechten «Massenvergewaltigungen».

Es ist offensichtlich, dass Clavadetscher nicht zum ersten Mal Aufklärungsarbeit leistet. «Der Geschlechtsakt ist schmerzhaft, weil der Katzenpenis mit Widerhaken ausgestattet ist. Damit das Weibchen nicht entwischen kann, verbeisst sich der Kater in dessen Nacken. Lässt er los, ist der Nächste dran», sagt er. Ausserdem sei die Aufzucht von Jungtieren für eine abgemagerte oder sogar kranke Katze eine grosse Belastung. Und bestimmt kein Mutterglück.

Enrico Clavadetscher schneidet den Bauch der weiss-grauen Katze auf, zieht mit einem Häkchen die beiden Eierstöcke hervor, schneidet sie weg, vernäht die Eileiter und den knapp zwei Zentimeter langen Bauchschnitt. Es ist fast kein Blut zu sehen. Dank einer inwändigen Naht verschwindet der sich selbst auflösende Faden vollständig in der Haut, sodass sich das Tier später nicht daran zu schaffen machen kann.

Um diese Jahreszeit, Ende Februar, lässt es sich nicht vermeiden, dass auch ein paar trächtige Katzen unters Messer geraten. Auch in diesen Fällen wird die Kastration durchgeführt, die Embryos werden entfernt. Es gilt das Motto: «Die Kastration verhindert Leid, bevor es entsteht.» Denn um diese Kätzlein würde sich niemand kümmern, die Gefahr sei gross, dass sie sterben oder getötet würden. Um keine hochträchtigen Tiere operieren zu müssen, führt die Organisation die Kastrationen vor allem in den Wintermonaten durch. So verhindert sie auch, dass Katzen, die geworfen haben, ihre Jungen nicht versorgen können, weil sie die Nacht in der improvisierten Tierklinik verbringen.

Gegen Mittag treffen Luc Gerber, der Präsident der jurassischen Tierärzte, und Anne Ceppi, die Kantonstierärztin, im Pavillon ein. Sie wollen sich ein Bild von der Aktion machen. Eine jurassische Tierärztin hat sich beschwert, die Zürcher würden zu «Dumpingpreisen» kastrieren. «Wie kann man von Dumping reden, wenn man Katzen kastriert, für die niemand auch nur einen Franken ausgeben würde?», nervt sich Esther Geisser. Die jurassischen Tierärzte seien nicht über die Aktion informiert worden, erklärt Gerber die ablehnende Haltung seiner Kollegin. Man einigt sich darauf, dass ein «Kommunikationsproblem» vorliege.

Gerber und Ceppi schauen sich um. Sie bezweifeln, dass nur verwilderte Tiere kastriert werden. Besonders eine Katze mit Flohhalsband wird beanstandet. Das Halsband sei doch vollkommen brüchig, hält Geisser dagegen, es sei kaum wahrscheinlich, dass sich noch jemand um das Tier kümmere. Die Kantonstierärztin nickt. Grundsätzlich befürwortet sie die Aktion. Sie attestiert NetAP eine ausgeprägte Professionalität. Luc Gerber freut sich, dass die Missklänge ausgeräumt werden konnten. Zukünftig möchte er mit seinen jurassischen Kollegen ähnliche Aktionen durchführen.

Die Operateure arbeiten wie am Fliessband, um 16 Uhr haben sie bereits 66 Katzen kastriert. Mittlerweile riecht es streng nach Desinfektionsmittel. Draussen werden Operationsbretter und Boxen gereinigt und desinfiziert. Eine Tierärztin massiert ihre Hand, die Finger schmerzen vom Nachziehen der Fäden. Langsam füllen sich die Behälter mit gebrauchten Kanülen und Skalpellen.

Plötzlich ruft eine Helferin aufgeregt nach einem Arzt: Im «Aufwachraum» habe ein Tier gekotzt. Die spindeldürre, immer noch schlafende dreifarbige Katze sieht erbärmlich aus. In ihrem Erbrochenen zappeln Würmer. Fabian Scholz rennt herbei und zieht dem Tier einen weiteren Spulwurm zwischen den Zähnen hervor. Die Katze habe ihm schon während der Operation Sorge bereitet, sagt der Tierarzt, das Fettgewebe habe sich krümelig angefühlt. Er befürchtet, die Würmer könnten bereits die Magenwand zerfressen haben.

Das Tier stammt von einem Bauernhof ganz hinten im Tal. Fast alle Katzen dort sind krank. Esther Geisser verabreicht dem Häufchen Elend eine Infusion und wärmt es mit einer mit heissem Wasser gefüllten PET-Flasche. Sie sagt: «Solche Situationen berühren mich. Dieses Tier wäre ohne uns gestorben. Jetzt kämpfen wir ums Überleben dieses Büsis.»

Es ist 19.35 Uhr, 112 Katzen sind kastriert. Eine Tierärztin streift sich die Stirnlampe vom Kopf; auf ihrer Stirn bleibt ein Abdruck zurück. Sie schaut noch mal in jede Box, bevor die Patienten über Nacht allein gelassen werden. Henri Steinlin wird die Katze, die erbrochen hat, in Vreni Looslis Tierauffangstation bringen.

Um 21.30 treffen die Tierschützer endlich in einer nahegelegenen Pension ein, wo sie in Mehrbettzimmern übernachten werden. Esther Geisser hat ein veganes Abendessen bestellt, Spaghetti mit Tomatensauce. Beim Essen dreht sich das Gespräch um ein Kätzlein, das gefunden und aufgepäppelt worden ist («Psychohygiene für Tierschützer»), Strassentiere, die aus dem Ausland importiert werden («obwohl unsere Tierheime übervoll sind»), eine Tierarztpraxisassistentin, die sich eine Französische Bulldogge aus einer osteuropäischen Qualzucht gekauft hat («und für uns nun leider untragbar geworden ist») und den neusten Klatsch aus der Tierärzteszene. Auf den Handys leuchten keine Kinder-, sondern Tierfotos.

Am nächsten Tag gehts früh in den Pavillon zurück. Die Katzen miauen vorwurfsvoll. Es riecht nach Urin. Zwei Tiere konnten sich aus ihren Boxen befreien und müssen mit einem Netz eingefangen werden.

Henri Steinlin verfrachtet einige Katzen in sein Auto, um sie auf die Höfe zurückzubringen. Fleurys Enkelin quietscht vor Freude, wenn eine der namenlosen Katzen aus dem Käfig flitzt, um im Stall Unterschlupf zu suchen. Kurze Zeit später freut sich auch Jacqueline Gigon über die Rückkehr ihrer Streuner. «Tu as faim, ma petite?», fragt sie durchs Gitter.

Im Pavillon treffen immer noch neue Tiere ein. Um 14 Uhr sind 171 Tiere kastriert. Ist das mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein? Wenn man bedenke, wie viele Jungtiere nun nicht zur Welt kämen, sagt Esther Geisser, «handelt es sich keineswegs um einen Tropfen, sondern eher um eine Flut an Leid, die verhindert wird». Sie weiss aus Erfahrung, dass sich die Situation nach Kastrationsaktionen tatsächlich verbessert. Am liebsten wäre ihr allerdings, wenn ihr Einsatz gar nicht notwendig wäre. Sie wünscht sich eine allgemeine Kastrationspflicht, wie sie einzelne deutsche Städte und Gemeinden bereits kennen. In Paderborn etwa müssen auch Leute, die regelmässig streunende Katzen füttern, «ihre» Katzen kastrieren lassen. In Österreich gilt die Kastrationspflicht sogar bundesweit – allerdings sind ausgerechnet die Bauern davon ausgenommen.

In der Schweiz haben sich die Bauern erfolgreich gegen die Kastrationspflicht gewehrt, die im Vernehmlassungsentwurf der neuen Tierschutzverordnung vorgesehen war. Als das Gesetz 2008 in Kraft trat, verlangte es vom Tierhalter nur noch, «zumutbare Massnahmen gegen die übermässige Vermehrung der Tiere zu treffen». Esther Geisser schüttelt den Kopf. Nein, ihr sei nicht bekannt, dass auch nur ein einziger Katzenhalter aufgrund dieses Gummiparagraphen in die Pflicht genommen worden sei.

Bis zum Abend sind 203 Katzen kastriert. Die Stirnlampen der Tierärzte leuchten nur noch schwach. Enrico Clavadetschers Hände sind spröde vom Desinfektionsmittel. Henri Steinlin erhält einen Anruf von Vreni Loosli: Der kleinen Katze, die gestern Würmer erbrochen hat, gehe es inzwischen besser. «Sie hat soeben gefressen.»