Um Punkt zehn Uhr machen sich Flurina Brunold und Thomas Breitenmoser auf die Spur des mysteriösen Wassers. Sie bahnen sich ihren Weg durch kniehohes Gras. Die beiden Geologen halten bei einem bemoosten Betonfundament. Brunold öffnet den Metalldeckel mit einem Vierkantschlüssel. Es rauscht in der Tiefe – aus zwei Rohren schiesst Wasser. Vielleicht findet sich hier ein Indiz, das bei der Rettung von Brienz helfen könnte.

Denn dort bewegt sich die Erde, der Steilhang oberhalb des Dorfs rutscht bis zu vier Meter pro Jahr. Ein Radargerät am ehemaligen Schulhaus zeichnet die Bewegungen auf. Eine Ampel schaltet auf Rot, falls Steine auf die Strasse stürzen könnten. Im August donnerte ein 100-Tonnen-Fels ins Tal.

 Holterdiepolter: Der 100-Tonnen-Felsbrocken, der im August zu Tal stürzte, hat Spuren hinterlassen.

Holterdiepolter: Der 100-Tonnen-Felsbrocken, der im August zu Tal stürzte, hat Spuren hinterlassen.

Quelle: PASCAL MORA

Risse und ein schiefer Turm

Aber auch das 120-Seelen-Dorf selbst gleitet in Richtung Tal – von 1920 bis 2010 rutschte es 2,7 Meter, seither weitere fünf. Davon zeugen der schiefe Kirchturm, Risse in Hauswänden und die Zufahrtsstrasse, die man nicht mehr asphaltiert, weil sie ständig zerrissen wird.

Ob die beiden Erdbewegungen sich beeinflussen, ist unklar. Die Gefahr, dass ein Bergsturz das Dorf begräbt, erscheint gering. Wahrscheinlicher ist, dass es durch den unteren Rutsch weiter Schaden nehmen wird.

 Alles rutscht: der Berg im Hintergrund und auch die Felsplatte, auf der das Dorf Brienz steht.

Alles rutscht: der Berg im Hintergrund und auch die Felsplatte, auf der das Dorf Brienz steht.

Quelle: PASCAL MORA

Bei fast allen Erdrutschen ist Wasser im Spiel. Auch in Brienz gibt es dafür Indizien. Die Rutschung verlangsamt sich im Winter, mit der Schneeschmelze beschleunigt sie sich. «Es gibt eine Gleitfläche im Untergrund, und je mehr Wasser dort vorhanden ist, desto rutschiger ist sie», sagt Andreas Huwiler, Geologe vom Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden. «Wenn wir das Wasser wegnehmen könnten, würden sich die Erdmassen nicht mehr bewegen oder sich mindestens stark verlangsamen.»

Das kennt man vom Tessin. Der Ort Campo Vallemaggia an der italienischen Grenze rutschte bis in die achtziger Jahre ab. 1991 liess der Kanton einen Entwässerungsstollen bauen. Seitdem bewegt sich das Dörfchen nicht mehr nennenswert bergab.

Alle zwei Wochen untersucht sie an 24 Stellen das Wasser: Flurina Brunold

Alle zwei Wochen untersucht sie an 24 Stellen das Wasser: Flurina Brunold

Quelle: PASCAL MORA

Solche Sanierungen gelingen aber nur, wenn man exakt weiss, wo das Wasser im Untergrund fliesst. Das wollen Thomas Breitenmoser und sein Team herausfinden.
Flurina Brunold nimmt die Sonnenbrille ab, legt sich bäuchlings auf den Beton der Quelleinfassung und lässt sich kopfüber in die Öffnung gleiten. Sie füllt einen Becher, steckt zwei Elektroden hinein und diktiert: «Temperatur 10,4 Grad, pH-Wert 7,35, Leitfähigkeit 767.» Sie steigt in den Schacht hinab, hält einen Eimer vor das Rohr und stoppt die Zeit. «10 Liter in 6,3 Sekunden», ruft sie. Breitenmoser notiert.

Farbe ins Wasser

Die Forscher untersuchen alle zwei Wochen das Wasser an 24 Stellen. Sie wollen herausfinden, wie die unterirdischen Ströme verlaufen. Auch mit Lebensmittelfarbe, die sie ins Wasser schütten, von Violett bis Hellgrün.

Im Dorf sitzt Rico Liesch auf einer Bank und blickt in die Sonne. «Brienz ist schön, verkehrstechnisch gut gelegen. Es wäre schlimm, wenn wir unsere Heimat verlassen müssten», sagt der 62-jährige Landwirt im Ruhestand. «Wir rutschen schon seit 100 Jahren – jetzt eben ein bisschen schneller.» Liesch unterstreicht jedes Wort mit einem Nicken. «Meine Hoffnung ist, dass die Experten den Rutsch stoppen können, wie in Vallemaggia.»

Das Wasser ableiten

Im Tessiner Dorf gruben Ingenieure einen Stollen unter der Rutschschicht hindurch. Von dort wurden Drainage-Rohre nach oben in die Gleitschicht gebohrt. «Es kam gar nicht viel aus diesen Löchern, aber es reichte, um den Wasserspiegel abzusenken», erzählt Andreas Huwiler vom Amt für Wald und Naturgefahren. «Aus solchen Gleithorizonten wie in Vallemaggia und in Brienz kann das Wasser oft nur schlecht abfliessen. Drainagen können es dem Gestein entziehen.» Wenn Wasser abfliesst, erhöht sich in der Gleitfläche der Reibungswiderstand – und der Rutsch stoppt oder verlangsamt sich stark. Ob dieses Konzept in Brienz Aussicht auf Erfolg hat, sollen Sondierbohrungen zeigen.

Geologe Thomas Breitenmoser öffnet die quietschende Stahltür eines ehemaligen Militärschuppens ausserhalb von Brienz. Hier lagern die Kerne der bisherigen Bohrungen. Die fünfte von sechs ist gerade abgeschlossen. Im Halbdunkel öffnet Breitenmoser langgestreckte Holzkisten. In einer liegt lehmig-bröselige Erde, silbrig glänzend. «Das ist zerriebener Schiefer – die Rutschschicht», erklärt er. «Wenn man darauf noch mehr Wasser gibt, wird sie zu einem Brei. Darauf kann gut etwas gleiten.» In der Kiste daneben liegt ein glatter Zylinder, ebenfalls silbrig glänzend. «Die Schicht unterhalb der Rutschung, massives Gestein.»

 Im Lagerschuppen: Geologe Thomas Breitenmoser öffnet lange Holzkisten, in denen Bündner Schiefer liegt, Gestein aus Bohrungen.

Im Lagerschuppen: Geologe Thomas Breitenmoser öffnet lange Holzkisten, in denen Bündner Schiefer liegt, Gestein aus Bohrungen.

Quelle: PASCAL MORA

Der Clou: Beide Bohrkerne bestehen aus Bündner Schiefer. Dass er einmal als bröselige Rutschschicht und einmal als massives Gestein auftritt, ist historisch bedingt. Dreidimensionale Reliefmodelle zeigen, dass der Boden, auf dem Brienz heute steht, einst wie ein Puzzleteil in den Hang der oberen Rutschung passte. «Dieses Material ist wohl nach der letzten Eiszeit vor etwa 10'000 Jahren heruntergekommen», sagt Andreas Huwiler von der Fachstelle des Kantons. Die unterste Schicht des rutschenden Materials wurde zermalmt und bildet jetzt die breiige Gleitfläche, die tief unter dem Dorf liegt. Der Rutsch muss gewaltig gewesen sein, die neu entstandene Schicht ist bis zu 147 Meter dick. Das bedeutet auch: Brienz rutschte wohl bereits bei seiner Gründung im Mittelalter. Nur eben nicht so schnell wie heute.

Bis jetzt sind die Schäden im Dorf überschaubar. «Weil es auf einer relativ dicken und deshalb stabilen Scholle rutscht», sagt Huwiler. Der Geologe vergleicht das mit einer Eisscholle, die auf einer Schneeschicht gleitet. Wenn sie dick ist, ist sie stabil, und ihre Oberfläche verändert sich nicht. «Aber wenn sie dünn ist, bricht die Scholle – und dann merkt man das an der Oberfläche.» Falls Brienz weiter so schnell rutsche, werde die Scholle wohl irgendwann zerbrechen. «Dann sind grössere Schäden zu erwarten.» Deshalb drängt die Suche nach einer Lösung. Die Geologen wollen bis nächstes Jahr ihre Tests abgeschlossen haben. Dann erst wird entschieden, ob eine Sanierung ausgeschrieben wird.

Thomas Breitenmoser fährt mit seinem Subaru-Kombi zum neusten Bohrloch. Der Asphalt wölbt sich oft so sehr, dass er im Schritttempo fahren muss. Die Bohrung ist gerade abgeschlossen. Jetzt steht ein Versuch an, der zeigen soll, wie durchlässig der Fels unterhalb der Rutschschicht fürs Wasser ist.

Das Gestein hält dicht

«Seid ihr bereit?», ruft Bohrmeister Ronny Bogaerts seinen Kollegen zu. Dann dreht er das Wasser auf. Eine Wasseruhr misst, wie viel davon im Gestein versickert. Das Manometer zeigt einen Druck von 2,5 Bar. Bogaerts blickt auf die Wasseruhr – es tut sich nichts. Nach fünf Minuten schlägt der Zeiger eine Winzigkeit aus. «0,15 Liter», sagt Bogaerts, ein Kollege gibt den Wert in einen Computer ein. Nach zehn Minuten verdoppelt der Bohrmeister den Druck auf 5 Bar, dabei werden weitere 0,25 Liter ins Gestein gedrückt. Was die Fachleute daraus erfahren: Das Gestein ist kaum durchlässig für Wasser, verhindert also das Abfliessen nach unten. Ein Hinweis, dass eine Drainage hier tatsächlich Abhilfe schaffen könnte.

Am Abend liegt Brienz idyllisch in der Sonne. Die Ampel am Ortsausgang zeigt nicht Rot: Es ist kein Steinschlag zu befürchten. Von oben droht dem Dorf gerade keine Gefahr. Aber die Erde unter dem Dorf, sie bewegt sich doch.