Ein Wald voller Beeren, Früchte, Gemüse und Pilze, durch den man schlendern und sich alle paar Schritte etwas in den Mund stecken kann – klingt das nicht nach Paradies? Ein Garten, der gedeiht, ohne dass man ihn wässern und düngen muss – wäre das nicht perfekt? In einem Wald in Zollikofen bei Bern wurde genau so ein Garten angelegt. Weil die Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) herausfinden will, ob solche Waldgärten, die in der Permakultur-Bewegung gerade ziemlich en vogue sind, auch für die Schweizer Bauern und Waldbesitzer interessant sein könnten.

Es ist August, und wie so oft in jüngster Zeit heizt die Sonne dem Planeten so richtig ein. Daniel Lis führt eine Gruppe durch die Anlage, zeigt hier auf einen essbaren Straussenfarn und zieht da eine Kartoffel aus der Erde. Nicht nur die Menschen sind froh um die schattenspendenden Bäume, auch dem Garten kommen sie zugute. Während auf den konventionellen Feldern die Kulturen verdorren und die Bauern über künstliche Bewässerungs- und Beschattungssysteme nachdenken, bietet der Wald diese gratis: Im Waldgarten hält das Blätterdach die Hitze in Schach, die Bäume und der mit Wurzeln durchzogene Boden speichern das Wasser.

Salatbaum und falsche Oliven

«Der Waldgarten liefert Antworten auf den Klimawandel», sagt Lis. Er ist eigentlich Geisteswissenschaftler, doch seit er vor einigen Jahren mit der Permakultur in Kontakt kam, hat sie ihn nicht mehr losgelassen. Er ist Mitbegründer der Plattform Esswaldland.ch, die Waldgärten in der Schweiz vernetzt, und koordiniert die Aktivitäten des Vereins Permakultur Schweiz. An der HAFL hat er den Vorzeige-Waldgarten aufgebaut. Zudem bewirtschaftet er zwei eigene Waldgärten, davon einen urbanen Tiny Foodforest an seinem Wohnort in der Stadt Bern sowie einen Kastanienwaldgarten im Tessin.

Lis experimentiert gern. Das merkt man, wenn er vom «Salatbaum» erzählt, der Sommerlinde, aus deren jungen Blättern man Salat zubereiten kann. Oder von den falschen Oliven, die man aus unreif geernteten Kornelkirschen herstellen kann und die den echten geschmacklich «erstaunlich nahekommen». Mit seinem Waldgarten ist er sozusagen mitgewachsen: «Ich habe gemerkt: Das kann man selbst machen, ist gar nicht so ein Ding.»

Im Wald bereits vorhandene Arten wie Holunder, Brennnessel oder Brombeeren hat er integriert und mit Pflanzen aus dem Nutzgarten wie Rhabarber, Himbeeren, Liebstöckel oder Knoblauch ergänzt. Er hat sich angewöhnt, jede ihm unbekannte Pflanze zu bestimmen und sich zu fragen, wozu sie gut sein könnte. Zum Essen? Färben? Tierefüttern? Oder handelt es sich um ein Heilkraut? Wenn die botanische Fachliteratur nicht weiterhilft, tut es ein eigens für solche Fragen eingerichteter Whatsapp-Chat. Oder ein Selbstversuch, der auch schon mal zu Bauchschmerzen geführt haben soll.

Im Wald könnte mehr als Holz produziert werden. Auch Kartoffeln, Rhabarber, Spinat und Salat würden dort wachsen. Zu Besuch in einem Waldgarten, wo genau das schon passiert.
Quelle: Diego Saldiva
Brombeeren oder Krautstiel: An jeder Ecke gibts etwas zum Pflücken und Bestaunen.

Brombeeren oder Krautstiel: An jeder Ecke gibts etwas zum Pflücken und Bestaunen.

Quelle: Diego Saldiva

Im Waldgarten werden die Pflanzen nach den Prinzipien der Permakultur in sieben Schichten angebaut. Unter der Erde wächst das Myzel der Pilze, darauf wachsen Bodendecker wie Bärlauch, die Staudenschicht wird unter anderem von Rhabarber und Apfelminze gebildet. Darüber folgen Sträucher wie die Wilde Stachel- und Johannisbeere sowie kleine Bäume und grössere Sträucher wie Kornelkirsche, Holunder und Pimpernuss. Das Kronendach schliesslich bilden unter anderem Nussbaum, Edelkastanie und Wildkirsche als Nutzhölzer – denn ja, auch die Holzgewinnung ist im Waldgarten vorgesehen.

Die grossen Bäume stehen relativ weit auseinander, damit das Licht auf die tieferen Schichten fallen kann. Sie regulieren neben der Hitze auch Starkregen und dienen als Windbrecher. So entsteht ein dreidimensionales Anbausystem, das die gesamte Höhe ausnutzt. «Es heisst immer, in der Schweiz gebe es zu wenig Platz», sagt Lis. «In diesen verdichteten Gärten haben wir siebenmal so viel Platz wie auf einem Acker!»

Früher weidete das Vieh im Wald

Wer nun denkt, dass es sich bei solchen Foodforests, wie man sie im englischen Sprachraum nennt, nur um einen Permakultur-Trend handelt, liegt falsch. Dass unsere heimischen Wälder ausschliesslich der Holzproduktion dienen sollen, ist nämlich eine relativ junge Sichtweise, schreiben Volker Kranz und Frederik Deemter in ihrem «Praxisbuch Waldgarten». Bis ins 19. Jahrhundert liess man auch das Vieh im Wald weiden, und auf Waldlichtungen baute man Kartoffeln, Getreide und Beeren an. Diese gediehen gut auf dem fruchtbaren Waldboden – war er verbraucht, liess man wieder Bäume wachsen und rodete eine neue Lichtung.

In Südamerika, Afrika und Asien legt man seit je waldnahe Gärten an. In Nicaragua werden beispielsweise Kakaobäume in Symbiose mit anderen Waldbäumen angepflanzt, die auf natürliche Weise Nährstoffe für die Kakaobäume bereitstellen und Schädlinge fernhalten. Auch Bananen, Birnen, Avocados, Zimt und Cashews, die die Einheimischen das ganze Jahr mit Nahrungsmitteln versorgen, gehören zum biodiversen Waldsystem.

Pflanzen für den Feldwald

«Es geht aber nicht nur darum, im Wald Gärten anzulegen», sagt Lis. «Sondern auch darum, die Bäume aufs Feld zu bringen.» Solche Systeme nennt man Agroforst, sie haben ebenfalls eine lange Tradition. So werden unsere Obstgärten etwa zur Holz- und Fruchtproduktion und als Weide genutzt. Agroforstsysteme erleben heute eine Renaissance: In Griechenland zum Beispiel erwecken innovative Bauern und Bäuerinnen durch Monokultur und Brände ausgelaugte Böden zu neuem Leben und pflanzen unter den alten Olivenbäumen Begleitpflanzen, die den Bäumen guttun und auch selbst Ertrag bringen. Das wirkt sich positiv auf Boden und Biodiversität aus, die Produktion ist breiter abgestützt, und es kommt seltener zu Ernteausfällen.

Auch an der HAFL wurde ein solcher Feldgarten mit Gemüse, Büschen und Bäumen angelegt. Er dient den Studierenden als Schaugarten. Tobias Messmer, der das Projekt betreut und nach einer Reorganisation auch die Leitung des Waldgartens übernommen hat, sagt: «Im Feldgarten hat es mehr Licht als im Waldgarten, deshalb kann man dort auch Getreide wie Dinkel oder Winterweizen anpflanzen. Obwohl die Herangehensweise verschieden ist, wollen beide dasselbe: ein resilientes Foodsystem schaffen.»

Knacknuss Rentabilität

Solche Agroforstsysteme könnten künftig auch für die Schweizer Landwirtschaft eine grössere Rolle spielen. Im Rahmen des interkantonalen Ressourcenprojekts «Agro4esterie» werden derzeit in verschiedenen Kantonen moderne Agroforstsysteme auf 140 Landwirtschaftsbetrieben unterstützt. «Angesichts der Herausforderungen aufgrund des Klimawandels und der Biodiversitätskrise liefern solche Systeme in Zukunft wichtige Lösungsansätze und werden sicher eine bedeutendere Rolle spielen», ist der Präsident der Kleinbauernvereinigung, Kilian Baumann, überzeugt.

Und sogar der Schweizer Bauernverband stellt fest, dass die Kombination von Bäumen und Kulturen wegen des Klimawandels an Aktualität gewinne. Dort heisst es weiter: «Die Herausforderung besteht darin, Agroforstsysteme zu entwickeln, die rationell zu bewirtschaften sind und bei denen das Produktionspotenzial optimal genutzt werden kann.»

Einmal mehr scheint also die Rentabilität die Knacknuss zu sein. Im Waldgarten könne man tatsächlich keine grossen Mengen ernten, gibt Lis zu. «Dafür aber fast das ganze Jahr etwas.» Vor allem selbstgemachte Produkte wie Konfitüre, Brennnesselpesto oder falsche Oliven sind finanziell interessant, weil deren Wertschöpfung grösser ist. Es gibt schon einige Biobauern, die solche Produkte in ihrem Hofladen mit Erfolg verkaufen. «Wenn man zudem das Holz zum Heizen aus dem Waldgarten entnimmt, Biodiversitätsbeiträge bekommt und die Ferien auf dem Bauernhof interessanter werden – dann kann das finanziell schon passen.»

Der Waldgarten der HAFL und Daniel Lis’ ­Kastanienwald im Tessin sind derzeit die einzigen offiziell erlaubten Waldgärten in Schweizer Wäldern.

Solange die konventionelle Landwirtschaft auf Erdöl und Erdgas basiere, sei die Rentabilität der beiden Anbausysteme sowieso nicht vergleichbar, gibt Lis zu bedenken. «Man vergleicht mit einem gedopten System.» In einen konventionellen Acker müsse viel Energie gesteckt werden, in Form von maschineller Feldarbeit, Kunstdünger und Pestiziden. «Das geht nur auf, weil die fossile Energie heute noch sehr billig ist.» Im Waldgarten kommt statt Kunstdünger eine Menge klein geschnittenes Pflanzenmaterial als Mulch zum Einsatz. Das bedeutet zwar viel Handarbeit, ist aber auch eine Antwort auf die Problematik der verdichteten Böden: Waldgärten bauen Humus auf – auf der Versuchsfläche in Zollikofen waren es ganze drei Zentimeter in drei Jahren.

Der Waldgarten der HAFL und Lis’ Kastanienwald im Tessin sind derzeit die einzigen offiziell erlaubten Waldgärten in Schweizer Wäldern. Trotz Ausnahmebewilligung sind die Auflagen streng: So bleibt etwa der Anbau invasiver Pflanzen wie der Kiwi untersagt. Gerade invasive Pflanzen seien ein «heisses Eisen», so Lis, der schon die ein oder andere Diskussion mit Naturschützern geführt hat, die im Wald nur heimische Pflanzen sehen wollen. Auch wenn die Waldgartenszene das etwas unverkrampfter sieht, ist sich Lis seiner Verantwortung durchaus bewusst. Baumspinat könne richtig «abgehen», warnt er etwa. «Da wäre ich vorsichtig.»

So richtig glücklich scheint Daniel Lis mit dem strikten Pflanzenkatalog des Waldgesetzes aber nicht zu sein: «Funktioniert die Natur tatsächlich so?», fragt er und beantwortet die Frage gleich selbst: «Die in unseren Wäldern hochgeschätzten Douglasien sind auch keine einheimischen Bäume. Pflanzen können sich durchaus bewegen.» Vielleicht sollten wir das auch.