Geschichten, die mit einem Halbgott beginnen, sind gute Geschichten. Auch diese hier. Melkart heisst der Halbgott, von dem hier berichtet wird, er ist Phönizier. Ohne ihn sässe Jennifer Grunder nicht in ihrem Atelier in der alten SBB-Wäscherei bei der Zürcher Josefwiese. Im Gestell hinter ihr stapeln sich Einmachgläser voll mit Blüten und rätselhaftem organischem Material. Im Topf vor ihr kocht und schwitzt Birkenrinde langsam ins Rosarot. Ein Erlenmeyerkolben steht parat.

Doch zurück zu Melkart, dem Halbgott. Der Bezähmer von Seepferdchen und Schutzgott der Schifffahrt war, so wurde es zumindest überliefert, verzweifelt auf der Suche nach einem Geschenk, das eine schöne Nymphe von seinem vorteilhaften Wesen überzeugen sollte. Am Strand fand er eine Schnecke mit purpurnem Schleim, tauchte das Gewand seiner Geliebten in die leuchtende Flüssigkeit – und wurde zum Entdecker der Textilfärberei.

In der SBB-Wäscherei ist es nicht Schneckensekret, das Farbe auf Stoff bringen soll, sondern Birkenrinde. Sanftes Rosa statt verschwenderisches Purpur. Für ein Gramm benötigte man 10'000 Mittelmeerschnecken. In der Antike wurde Purpur deshalb mit Gold aufgewogen und galt als Farbe von Macht und Prestige. Die Birke ist bescheidener. Ein armlanger Ast reicht Grunder für ihren Streifen-Siebdruck auf Baumwollstoff.

Nachhaltige Alternative gesucht

Um der Hinterlassenschaft des Halbgotts Melkart gerecht zu werden, hat die studierte Kunstvermittlerin jahrelang experimentiert. Hat ganze Notizbücher mit Farbproben, Beobachtungen sowie gelungenen und gescheiterten Rezepturen gefüllt. Angetrieben vom Versuch, weniger auf Farben angewiesen zu sein, die aus Erdöl gewonnen werden und biologisch nicht abbaubar sind.

Mit natürlichen Farben bemalte Oberteile. Ob Malven, Granatapfelschalen oder Birkenäste: Textilgestalterin Jennifer Grunder entlockt Blüten, Wurzeln und Rinde Farbe. Ein Werkstattbesuch.

Mit natürlichen Farben bemalte Oberteile

Quelle: Annick Ramp

Zusammen mit vier Kolleginnen führt Grunder das Siebdruckatelier Siebundbrot. Siebdruck, eines der ältesten Druckverfahren für Textilien, ist neben den göttlichen Naturfarben ihre zweite Leidenschaft. «Nach jedem Siebdruck wird die übrig gebliebene synthetische Farbe den Abfluss hinuntergespült. Das hat mich gestört, also habe ich angefangen, an einer nachhaltigen Alternative zu tüfteln», sagt sie.

Die Techniken der Naturfärberei lernte Jennifer Grunder aus alten Brockenhausbüchern. Ob Malven, Granatapfelschalen oder Birkenäste: Textilgestalterin Jennifer Grunder entlockt Blüten, Wurzeln und Rinde Farbe. Ein Werkstattbesuch.

Die Techniken der Naturfärberei lernte Jennifer Grunder aus alten Brockenhausbüchern.

Quelle: Annick Ramp

Wissen über die fast vergessene Technik der Naturfärberei fand sie in alten Brockenhausbüchern aus den 1970er-Jahren. Bis zur nachhaltigen Siebdruckfarbe war es aber ein langer Weg. Sie muss konzentrierter und farbintensiver sein als gewöhnliche Naturfarbe, die meist fürs Textilfärben gewonnen wird. Ihre Erkenntnisse und einen Teil ihrer Rezepturen gibt Grunder in Kursen weiter.

Lieblingspflanze Färberkrapp

Die wichtigste Zutat bei der Herstellung von Naturfarben ist Zeit. Der Färbeprozess braucht Pausen, damit die Farben kräftig werden, und bestimmte Temperaturen, damit die Farbstoffe sich aus dem organischen Material zu lösen beginnen. Jennifer Grunder kann mittlerweile fast allem, was wächst und gedeiht, Farbe entlocken. Ob Lavendel, Malvenblüten, Granatapfelschalen, Färberkamille oder eben Baumrinde.

Am allerliebsten arbeitet sie mit Färberkrapp. Rubia nannten die Römer die Pflanze, auch die Wikinger färbten ihre Stoffe damit. Ihr Geheimnis: Mit der richtigen Technik bringt man die Krappwurzel dazu, fast ein Imitat von Purpur zu produzieren, der Halbgottfarbe aus Schneckensekret. Doch die unauffällige Kulturpflanze schafft auch fast alle Töne von Rosa über Tiefrot bis hin zu Braun und Violett.

Die Natur dient als Farbquelle: mit gelben Pigmenten aus Sophora-Blüten und dem Violett von Cochenille-Läusen. Ob Malven, Granatapfelschalen oder Birkenäste: Textilgestalterin Jennifer Grunder entlockt Blüten, Wurzeln und Rinde Farbe. Ein Werkstattbesuch.

Die Natur dient als Farbquelle: mit gelben Pigmenten aus Sophora-Blüten und dem Violett von Cochenille-Läusen.

Quelle: Annick Ramp

«Färberkrapp wächst bei mir deshalb überall. Auf meinem Balkon, im Garten meiner Mutter und sogar in einem Topf am Eingang des Ateliers», erzählt Grunder. Die meisten Farben, die sie für ihre Siebdrucke herstellt, stammen von Pflanzen, die sie selbst anbaut oder in der Stadt Zürich findet. In ihrem Sammelsurium von Einmachgläsern finden sich auch Mitbringsel wie Galläpfel aus Italien oder exotisches Material wie Cochenille-Schildläuse, die für das Rot im Campari verantwortlich waren.

 Im Topf köchelt gehäckselte Birkenrinde langsam ins Rosarote. Ob Malven, Granatapfelschalen oder Birkenäste: Textilgestalterin Jennifer Grunder entlockt Blüten, Wurzeln und Rinde Farbe. Ein Werkstattbesuch.

Im Topf köchelt gehäckselte Birkenrinde langsam ins Rosarote.

Quelle: Annick Ramp

Den Birkenast hatte Grunder auf ihrem Weg ins Atelier gefunden. Nach dem geduldigen Färbebad landet die ausgekochte Rinde im Kompost, der rote Farbsud im Kolbenglas. Sie mischt ihn so lange mit einem biologischen Bindemittel, bis er dick und seidig am Pinsel haftet. Dann streicht sie die Birkenfarbe durch ein feinmaschiges Gewebe auf den vorgebeizten Baumwollstoff, zieht die Schablone ab und prüft ihr Werk. Dunkelbraune Streifen zieren den Stoff, nach dem Fixieren wird ein helles Rosa daraus werden.

Und der Halbgott? Ob er mit seinem purpurnen Gewand Erfolg hatte, ist nicht überliefert. Eine andere Legende lässt aber den Schluss zu, dass er seiner Meeresnymphe noch ein zweites Geschenk machen musste. Er baute ihr eine Stadt am Meer und benannte sie nach ihr. Die Stadt existiert noch heute. Tyros, im heutigen Libanon. Sie gilt als eine der ältesten Städte der Menschheit.

Nachhaltiges Textildesign vermittelt Jennifer Grunder in Workshops und Kursen. Mehr Infos unter lemondedenou.ch.