Und zack ist der Handschuh weg. Er segelt die steile Flanke hinunter. Wir schauen ihm nach, ein flaues Gefühl macht sich in der Magengrube breit. Gerade hat unsere Fünfergruppe einen 300 Meter langen, schmalen Schneegrat überwunden – und dann tschüss. Alles ist vergänglich, das zeigt der Berg auch an kleinen Dingen.

Als Jeannine dann die 4000-Meter-Marke erreicht, löst sich ein lauter Juchzer aus ihr. Die 47-Jährige hat im vergangenen Jahr ihre krebskranke Schwester in den Tod begleitet. Danach sank sie in ein Loch und musste länger in die Klinik. Sie entschloss sich, einen Viertausender zu erklimmen. «Als Abschluss sozusagen», sagt die quirlige Aargauerin. Und schickt ihrem Arzt ein Selfie. Jeannine auf der sanften Schneekuppe des Breithorns.

Bis sie so weit kam, musste sie sich einiges an Wissen und Technik aneignen. Das lernt man in einem Viertausender-Training. Fast alle Alpinschulen bieten sie an. Nach dem Grundkurs sollte man einen einfachen Eisriesen besteigen können.

So werden Wanderer zu Bergsteigern, die selber die hochalpine Welt entdecken können, die sie bisher nur aus der Ferne kannten. Sie sollen dieses Glücksgefühl erleben, mit den anderen Viertausendern auf Augenhöhe zu stehen, fast einem Flugzeug gleich zu schweben. Dafür lohnen sich alle Anstrengungen.

Bergführer Michel Imhof hat dieses Ziel mit seiner Fünfergruppe schon erreicht. Den Gipfel des Breithorns gemeistert, 4164 Meter über Meer. Zuvor standen aber zwei Tage lang Seiltechnik, Tourenplanung und Eisausbildung auf dem Programm. Im Wallis, wo 41 der 48 Schweizer Viertausender stehen, gibt es viele Möglichkeiten, erste alpine Techniken auszuprobieren. Etwa rund um die Gandegghütte (3030 Meter über Meer), Ausgangspunkt für Castor-, Pollux- und Breithorn-Begehungen. Die Hütte liegt wunderschön auf einem Felsband über dem Unteren Theodulgletscher. Ein Steinadler kreist darüber.

Auf Felsblöcken üben wir das Gehen am kurzen Seil, unerlässlich für eine Gletscherbegehung in zerklüftetem Gelände. Der Seilführer, normalerweise die erfahrenste Person, ist beim Aufstieg vorn und beim Abstieg hinten, damit bei einem Sturz der Seilpartner abgebremst und gehalten werden kann. Aber beim Üben müssen auch die Unerfahrenen die Führungsrolle übernehmen. «Wenn ich dich ans Seil nehme, gebe ich mein Leben in deine Hand – und umgekehrt», sagt Bergführer Imhof.

Der 43-Jährige aus Matten bei Interlaken hat markante Überbeine auf den Schultern. «Das kommt vom vielen Rucksack- und Seiltragen», erklärt er. Ein 50 Meter langes Seil wiegt bis vier Kilo, der Rucksack etwa neun. «Man muss auf seinen Seilpartner hören, sich seinem Tempo anpassen», so Imhof. Egoisten haben hier nichts verloren. Innehalten, zuhören, sich aufeinander abstimmen – das ist es. Klingt wie ein Kurs in Achtsamkeit.

Quelle: Alessandro Fischer

Langsam geht alles besser am Berg. Auch das Knüpfen der Knoten für das Anseilen oder Sichern – eine knifflige Sache. Es geht um die Sicherheit, da muss jede Schlinge sitzen. Und so üben wir Achterknoten, Prusik, Halbmastwurf und doppelten Spierenstich. Mit dem Leitseil muss man haushälterisch umgehen, immer wieder die Seilverkürzung vornehmen – denn für eine Rettung muss genug Reservelänge da sein. Irgendwann schaffen es alle.

Spektakulärer ist die Eisausbildung auf dem Gletscher am zweiten Tag. Der Untere Theodulgletscher fliesst in eine Mulde, «er verhält sich wie Schoggicreme», sagt Michel Imhof. Und meint damit, dass ein Gletscher in einer Mulde langsamer fliesst und zusammengedrückt wird. Daher gibt es dort weniger gefährliche Spalten.

Die Gruppe macht sich bereit, alle ziehen die Steigeisen an, seilen sich an, bilden Dreierseilschaften und nehmen den Pickel in die Hand. Ein Fuchs huscht in der Ferne vorbei, irgendwie surreal auf einem Gletscher. An vielen Stellen blitzt das blanke Eis. Gut so. «Möglichst nie auf Schnee gehen», sagt Imhof. «Man weiss nie, ob darunter eine Spalte liegt.» Stundenlang erkundet die Gruppe die fabelhaften Türme aus abgebrochenem Eis, schmale Eisbrücken, darunter blubbern stellenweise kleine Gletscherbäche.

Faszinierende Welt unter dem Eis

Wir üben den Umgang mit dem Pickel, Auf- und Abstiegstechniken, ein bisschen Eisklettern – und die Bergung aus der Gletscherspalte. Jeder Teilnehmer wird in eine etwa fünf Meter tiefe Spalte abgeseilt und von den anderen «gerettet». Die Welt unten ist faszinierend, das Blau des Eises einfach unvergleichlich. Es ist kühl und nass. Zum Glück hat Bergführer Imhof bereits eine sichere Verankerung für den Flaschenzug gebaut, so dass die Rettungen relativ schnell und reibungslos verlaufen. Aber alle ahnen, dass das im Ernstfall eine gröbere Sache wäre.

Das Wetter wird schlechter, Zeit für den Heimweg. Der Wanderweg durch Fels- und Geröllhalden hoch zur Hütte wird zum Aha-Erlebnis. Im Gänsemarsch geht es stetig hinauf. Das Gelände ist sehr steil, doch kaum jemand atmet schwer. Imhof fragt, wie schnell wir wohl unterwegs seien. Alle schätzen, dass es kaum mehr als 200 Höhenmeter pro Stunde seien. Total daneben. Obwohl wir so langsam gehen, sind es etwa acht Meter pro Minute, also knapp 500 Meter stündlich. Die Norm bei der Zeitberechnung von Touren sind 400 Höhenmeter pro Stunde. Die Gruppe entdeckt eine Langsamkeit, die gar nicht langsam ist – und erst das Vorankommen ermöglicht. Auch am Breithorn hilft diese Erkenntnis. Vorpreschen bringt nichts, stetiger Gang ohne Pausen führt zum Gipfelerlebnis ohne rote Köpfe und totale Erschöpfung. Damit auf 4000 Metern noch genug Luft da ist für einen Jauchzer aus dem tiefsten Innersten. Bergführer Michel Imhof zeigt uns das Gehen am kurzen Seil. Schritt für Schritt entdecken wir eine Langsamkeit, die gar keine ist.

Quelle: Alessandro Fischer