Es war ein simpler Handgriff, den ein Angestellter einer welschen Tauchfirma am 31. August 2010 tat – aber ein verhängnisvoller. Der Berufstaucher hatte im Brennelement-Transferbecken des Kernkraftwerks Leibstadt eben Instandhaltungsarbeiten beendet, als er am Boden des Beckens ein 25 Zentimeter langes Rohrstück entdeckte. Er hob es auf und legte es in einen Transportkorb. Als dieser aber an die Oberfläche gezogen wurde, schlugen die Geigerzähler an: Das Fundstück war verstrahlt – und der Taucher somit auch.

Die Untersuchung des ernsthaftesten Vorfalls in einem Schweizer AKW im Jahr 2010 wurde im Dezember abgeschlossen, ohne dass die Öffentlichkeit die Resultate erfuhr. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) ergänzte einzig die Medienmitteilung, die unmittelbar nach dem Vorfall herausgegeben worden war. Nun liegen dem Beobachter der Ensi-Bericht und ein Expertengutachten zur Verstrahlung des Tauchers vor. Beide Berichte zeigen eine Serie von Unzulänglichkeiten und Sicherheitsmängeln.

Problem 1: Das radioaktive Teil, ein Stück des Mantelrohrs der Reaktorkerninstrumentierung, lag bereits rund vier Jahre dort. Diese Rohre werden alle paar Jahre ausgewechselt, zerschnitten und in einer Art Köcher durch einen Lift ins rund 20 Meter weiter unten liegende Transferbecken geschleust. 2006 hatten sich die Rohrstücke, die laut Leibstadt-Direktor Andreas Pfeiffer «nach Augenmass» gesägt worden waren, beim Ausladen aus dem Lift verklemmt, weil sie zu lang waren. Als man den Transportköcher wieder hochzog, brach ein Rohrstück ab – ohne dass es jemand bemerkte.

Problem 2: Bevor der Taucher ins Becken stieg, wurde dieses an fünf Punkten auf Radioaktivität untersucht, jedoch nur im «engeren Arbeitsbereich». Das entdeckte Rohrstück lag knapp ausserhalb davon. Es genüge nicht, «nur den engeren Arbeitsbereich auszumessen», bemängelt das Ensi.

Problem 3: Ein tragbarer Geigerzähler («Unterwasser-Dosisleistungsmessgerät») hätte die Arbeit laut Leibstadt-Direktor Pfeiffer «behindert, da der Taucher für seine Arbeit beide Hände brauchte». Im Ensi-Bericht klingt das etwas anders: Ein solches Gerät «stand nicht zur Verfügung».

Problem 4: Die fünf Dosimeter, die der Taucher auf sich trug, schlugen zwar akustisch Alarm, doch hörte der Taucher wegen der Sprechfunkverbindung zu seinem Kollegen am Beckenrand nichts davon.

Problem 5: Einzig dieser Kollege – auch er kein Angestellter des AKWs – sah die Bilder der Helmkamera des Tauchers. Er gab auch das Okay, das Rohrstück zu bergen. Die beiden Strahlenschutzexperten des AKWs – ebenfalls vor Ort – sahen weder auf den Monitor, noch griffen sie ein.

Problem 6: Das sogenannte Fingerringdosimeter an der rechten Hand des Tauchers, das die genauesten Werte über die Strahlendosis hätte liefern können, war während des Tauchgangs beschädigt worden. Laut dem Bericht der externen Strahlenschutzexperten konnten vom Gerät «alle vier Teile geborgen werden». Danach wurden sie «minutiös unter der Lupe zusammengefügt und mit Hilfe eines Sekundenklebers geklebt». Die vom Dosimeter angezeigten Werte könnten deshalb auch «anders sein», schlussfolgern die Experten.

Sie sind auch so hoch genug. Eine Dosis von 28 Millisievert auf einmal abzubekommen sei «massiv», sagt der Greenpeace-Strahlenschutzexperte Heinz Smital. Schliesslich sei schon der Jahresdosisgrenzwert von 20 Millisievert sehr hoch angesetzt: «Das ist ein sehr ernster Vorfall, der auf grobe Mängel im Sicherheitsmanagement hinweist.»

Wenig beruhigend liest sich da die Schlussbemerkung im Ensi-Bericht: «Ein vergleichbares Vorkommnis ist auch in anderen Kernkraftwerken denkbar.»