Es ist Ferienzeit, vormittags um elf Uhr. Armando aus Angola sitzt vor dem Fernseher. Zwei Kollegen spielen im Nebenraum Billard. Der Afghane Ghusedin dagegen ist auf einem Arbeitseinsatz unterwegs: Er bessert zusammen mit Kollegen in der Umgebung Wanderwege aus.

Armando, Ghusedin und all die andern haben trotz unterschiedlichster Herkunft vier Dinge gemeinsam: Sie sind minderjährig, ohne Begleitung Erwachsener eingereist und ersuchen in der Schweiz um Asyl. Und sie leben im Zentrum Lilienberg in Affoltern am Albis, dem Zürcher Auffangzentrum für unbegleitete minderjährige Asylsuchende, auf Amtsdeutsch UMA genannt.

Armando ist, nach eigenen Angaben, 17 und mit einem Bekannten über den Kongo und Somalia nach Italien gereist. Von dort ist er mit dem Auto in die Schweiz gelangt. Ghusedin, der Afghane, sagt, er sei zwei Jahre lang unterwegs gewesen, habe in der Türkei und in Griechenland auf der Strasse geschlafen und sich in Lastwagen versteckt. Schliesslich sei er auf verschlungenen Wegen hier angelangt. Seit etwa zwei Monaten leben die beiden in der Schweiz und hoffen auf Asyl. Ob Namen, Alter und Herkunft der Jungen stimmen, wissen wohl nur sie.

2006 werden etwa ein Viertel so viele junge Menschen in der Schweiz um Asyl ersuchen wie auf dem Höhepunkt im Jahr 2002, als fast 1’700 einreisten. Knapp ein Fünftel sind Mädchen. Über die Gründe für den Rückgang lässt sich nur spekulieren. Er kann mit veränderten Migrationsrouten zu tun haben, mit der Attraktivität anderer Länder wie Grossbritannien oder Frankreich oder auch mit dem verschärften Asylgesetz.

Vier von fünf kamen ohne Papiere



Während die Bundesbehörden vor allem auf die abschreckende Wirkung des neuen Asylgesetzes hoffen, um «unechte» Flüchtlinge von der Schweiz fernzuhalten, sind die Fachleute skeptisch: «Vermutlich werden einfach noch mehr in die Illegalität abtauchen und für uns noch weniger gut kontrollierbar sein», erklärt Simea Merz von der zuständigen Amtsstelle des Kantons Zürich.

Etwa vier von fünf Minderjährigen, die im vergangenen Jahr in die Schweiz kamen, reisten ohne Papiere ein. «Alle jugendlichen Asylsuchenden, die in die Schweiz kommen, haben für sich einen Grund, sei das die Hoffnung auf ein besseres Leben oder die Flucht aus Not, Elend und Armut», sagt Simea Merz, die in ihrer Funktion auch Beiständin für rund 100 minderjährige Asylsuchende ist. «Da diese Gründe keine Gründe im Sinne des Asylgesetzes sind, legen sie sich eben eine andere Geschichte zurecht.» Meistens geben die Jugendlichen an, vor religiösen Konflikten oder kriegerischen Auseinandersetzungen geflüchtet zu sein, vor einer Zwangsheirat, Kinderarbeit oder sexueller Ausbeutung. Die Geschichten, die sie an den Empfangsstellen erzählen, seien ihnen meist von Schleppern beigebracht worden, erklärt Merz. Aber auch wenn diese Lebenshistorien nicht stimmen: Wer unter äusserst harten Umständen während Monaten auf sich gestellt durch die Lande zieht, oftmals unter Lebensgefahr, macht keine Vergnügungsreise: «Etliche sind traumatisiert vom langen Herumirren in Europa, wurden missbraucht und ausgebeutet», hält Merz fest.

Viele dieser unbegleiteten Jugendlichen werden von ihrer Familie auf die Reise geschickt, um sich an den Honigtöpfen der westlichen Konsumgesellschaft zu laben. Es sind deshalb Minderjährige, weil ihre Familien glauben, diese würden leichter Asyl erhalten. «Der Druck, der auf diesen jungen Menschen lastet, ist enorm», weiss Merz. «Die Familie, die das Geld für die Reise aufgebracht hat, erwartet von ihnen, dass sie im Westen Arbeit finden und Geld nach Hause schicken.»
 

 

«Häufig zu Volljährigen gemacht»



Bevor die Jugendlichen auf den Lilienberg kommen, werden sie auf dem Flughafen oder einer Empfangsstelle registriert und befragt. Bei vielen wird das Alter angezweifelt, weshalb eine Hand- oder Ganzkörperanalyse vorgenommen wird. «Häufig werden sie an den Empfangsstellen zu Volljährigen ‹gemacht›», kritisiert Thomas Elber, Asylkoordinator des Kantons Schaffhausen. Minderjährige dürfen nämlich nicht abgeschoben werden, Volljährige schon.

Gegenwärtig leben rund 50 minderjährige Asylsuchende im Affoltemer Auffangheim; je rund ein Drittel kommt aus Asien, Afrika und Europa. Sie leben in Wohngruppen, zusammen mit einer erwachsenen, ebenfalls Asyl suchenden Person aus demselben Kulturkreis. Achteinhalb Franken Essensgeld erhalten sie pro Tag, das Einkaufen und Kochen erledigen sie selber. Am Vormittag wird die Schulbank gedrückt. «Die Schule besteht aus sozialkundlich orientiertem Deutschunterricht», erklärt Lehrerin Martina Heuss, «dazu gehören Sitten und Gepflogenheiten der Schweiz, das Alltagsleben, aber auch Einkaufen und die Arbeitswelt.» Das unterschiedliche Bildungsniveau der Jugendlichen macht, dass der Unterricht nicht ganz einfach ist. «Wir unterrichten Analphabeten, aber auch relativ gut Gebildete», sagt Heuss.

Am Nachmittag stehen Sport, Musisches oder Handarbeit auf dem Programm, die Abende werden gemeinsam gestaltet. Um 23 Uhr ist Nachtruhe.

«Rassistisch bedingte Konflikte gibt es unter den Jugendlichen nicht», freut sich Claude Hoch, Leiter des «Lilienbergs». Weniger einfach ist es, die Disziplin zu wahren. «Das ist fast unsere Hauptbeschäftigung», sagt Hoch. Nicht immer mit Erfolg: Es kommt vor, dass Jugendliche tagelang nicht mehr ins Zentrum zurückkommen, mit der Polizei zurückgeführt werden oder ganz abtauchen. Die Probleme häufen sich, wenn ein grösseres Kontingent Russen im «Lilienberg» einquartiert ist. «Wenn die sich heimlich Alkohol beschafft haben, ist oft der Teufel los.» Zudem würden die jungen Russen auf Druck von Autoritäten sehr gleichgültig reagieren.
 

 

Verhaftet und bald wieder freigelassen



Die jungen Asylsuchenden haben alle ein Ziel: Sie wollen Geld verdienen - allerdings auf unterschiedliche und oftmals illegale Art und Weise. «Ein Problem sind vor allem die Jugendlichen aus Osteuropa, also aus Weissrussland, Moldawien oder der Ukraine», sagt Simea Merz, «die von Banden nach Europa geschickt werden, um hier auf eigentliche Raubzüge zu gehen.» Andere wiederum werden von Drogenbanden als so genannte Ameisen eingesetzt, die auf der untersten Stufe der Hierarchie im Handel tätig sind. Die Hintermänner wissen genau, dass erwischten jugendlichen Asylsuchenden wenig passiert. «Wenn sie verhaftet werden, muss man sie nach kurzer Zeit wieder freilassen», erklärt Simea Merz, «und auch die Ausschaffungshaft wirkt nicht auf alle abschreckend.» Während junge Asylsuchende aus Afrika in der Schweiz bleiben möchten, um für sich und ihre Familien den Lebensunterhalt zu verdienen, halten sich viele kriminelle Jugendliche aus Osteuropa ohnehin nur während einiger Monate hier auf, um Güter, die in ihren Heimatländern begehrt sind, zusammenzustehlen.

Auch wenn Simea Merz während der zehn Jahre, in denen sie sich um unbegleitete junge Asylsuchende kümmert, einige Illusionen verloren hat, ist sie dennoch weit davon entfernt, eine härtere Gangart zu fordern. «Diese Jungen sind jetzt hier und stehen unter dem Schutz der Kinderrechtskonvention.» Bis zur Volljährigkeit müssten sie daher Sicherheit, feste Strukturen und eine Bildungsmöglichkeit erhalten. Schliesslich seien sie eine gefährdete Gruppe, weil sie oft für kriminelle Aktivitäten missbraucht würden. «Nicht die jugendlichen Asylsuchenden sind das Problem, sondern die Schlepperorganisationen», sagt sie.
 

 

Abtauchen, aber wohin?



Der weitaus grösste Teil der jungen Asylsuchenden kann bei Volljährigkeit nicht in der Schweiz bleiben. Viele tauchen denn auch ab, bevor sie den Asylentscheid erhalten, und versuchen ihr Glück in einem andern europäischen Land oder, ein paar Monate später, erneut in der Schweiz. Von den rund 214 «Abgängen» unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender im Jahr 2005 reisten laut Bundesamt für Migration 129 «unkontrolliert» ab. Für die Behörden mag das ein angenehmer Weg sein. «Für uns aber», sagt Claude Hoch, «sind solche Fälle beunruhigend, denn die Betreffenden könnten Opfer von Menschenhandel oder Prostitution geworden sein.»

Quelle: Gerry Nitsch