Als die Tür hinter mir sanft ins Schloss fiel, dachte ich noch nichts Böses. Erst Sekunden später traf es mich wie ein Tritt in die Magengrube: Scheisse, jetzt sitzt du in der Falle. Im Rücken die unüberwindbare Eisentür zu meiner Loftwohnung. Vor mir die eigentliche Eingangstür. Die eine mit Türknauf und Schnappschloss. Die andere mit dem Schlüssel verriegelt. Da stand ich also in meinen Boxershorts in diesem fünf Quadratmeter grossen Vorraum zum Badezimmer, in den ich mich gerade selber eingesperrt hatte, ohne Handy, ohne Wohnungsschlüssel und ohne Aussicht auf Rettung. Und das an Heiligabend.

Dabei hatte ich vor dem Zubettgehen nur schnell aufs WC gehen wollen. Alles war so schön kuschelig eingerichtet: im Bett die heisse Wärmflasche, daneben eine Tasse Tee. Beides war nun plötzlich weit, weit weg.

Plan I: Um Hilfe rufen

Langsam wurde mir die Tragweite des eben Geschehenen bewusst. Ich trat zum Kippfenster und schielte vom dritten Stock hinaus auf die Strasse. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Auch gegenüber, wo sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Lichtlein brennt, war alles finster. Zürich ist nicht New York, Zürich geht irgendwann schlafen. Dennoch rief ich in die kalte Winternacht hinaus: «Hallo!» – «Hallooo!»

In solchen Situationen «Hallo» zu rufen ist ja prinzipiell einmal doof. Man könnte genauso gut «Grüezi» schreien. Doch ich schämte mich, das Wort «Hilfe» in den Mund zu nehmen. Noch.

Plan II: Frauen-WG alarmieren

Fand ich es anfangs noch halbwegs amüsant, in welch missliche Lage mich meine Schussligkeit mal wieder gebracht hatte, war ich jetzt nur noch eines: stinksauer. Zum Abreagieren schlug ich auf die Wasserleitung ein. Vielleicht würde es mir gelingen, so die Wohngemeinschaft über mir auf meine Notlage aufmerksam zu machen – eine Frauen-WG. Seit meinem Einzug war ich den Damen noch nie begegnet. Und ehrlich gesagt hatte ich mir ein erstes Treffen auch anders vorgestellt, als ihnen nach einer derart peinlichen Aktion halb nackt in die Arme zu fallen. Meine Bedenken waren unnötig, das Trommeln verhallte ungehört. Ich war allein im Haus.

Plan III: Aus dem Fenster steigen

Ich trat nochmals zum Kippfenster: Kein Mensch in Sicht. Sollte ich aus dem Fenster steigen? Mich am Duschvorhang abseilen? Hinunterspringen? Draussen geht es zehn Meter in die Tiefe. Kein Halt, kein Griff – keine Chance.

Plan IV: Tür aufbrechen

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich im Restaurant gegenüber in weiser Voraussicht einen Notschlüssel deponiert hatte. «Zum Guten Glück» heisst das Lokal – ausgerechnet. Ich musste also nur die Eingangstür aufbrechen, dann könnte ich dort den Schlüssel holen, der mir die zweite, eiserne Tür zur Loftwohnung öffnet. Nur, womit? Nach einigem Suchen fand ich einen Schraubenschlüssel: gut, um jemanden niederzustrecken, miserabel zum Ausbrechen. Ich wusste: Das wird anstrengend. Zunächst schlug ich ziemlich planlos auf die Tür ein. Sie litt arg, aber sie ging nicht auf. Das änderte sich erst, als ich die Schläge auf die Türscharniere fokussierte. Nach einer Stunde – und mehrere blutig geschlagene Finger später – hatte ich die Bolzen endlich draussen. Die Tür sprang auf.

Plan V: Notschlüssel holen

Es war eiskalt und unterdessen halb zwei Uhr morgens, als ich mich in Turnschuhen – von denen gab es im Vorraum zur Genüge –, in Boxershorts und mit einem zu kleinen Badetuch, das nicht mal die Hälfte meines nackten Bauchs bedeckte, auf die Strasse wagte. Sie war menschenleer. Zum Glück – aber nicht «Zum Guten Glück», denn das hatte geschlossen. Es war der 24. Dezember, Mitternacht längst vorbei. Ich hätte es mir denken können. Also zurück ins Badezimmer. Dampf machen zum Aufwärmen.

Plan VI: 24-Stunden-Tankstelle

Eine Viertelstunde später wagte ich mich ein zweites Mal auf die Strasse. Diesmal war mein Ziel die 24-Stunden-Tankstelle um die Ecke. Es wurde ganz still, als ich in Unterhosen im Neonlicht der Tankstelle auftauchte. Auf dem Land kommt man in die Fasnachtszeitung, in der Stadt Zürich muss man aufpassen, dass man wegen eines solchen Auftritts nicht in der Gummizelle landet. Verschämt ging ich zum Mann an der Kasse, erklärte ihm die Sachlage und fragte, ob ich kurz telefonieren könne. Die Reaktion fiel herzlos aus. Sie hätten die Weisung, keine Anrufe nach aussen zu erlauben, meinte er. Ich blieb freundlich. Schliesslich war ich weder in der Aufmachung noch in der Position, einen Zirkus zu veranstalten – zumal ich bestimmt nicht der erste «Irre» war, der nachts in der Tankstelle um «Hilfe» bittet.

Meine Freundlichkeit zahlte sich aus: Nach langem Zureden bekam ich einen Telefonanruf zugesprochen. Einen einzigen. Ich überlegte kurz und entschied mich für die Feuerwehr. Der Mann am Telefon war nett, meinte jedoch, dass er die Polizei aufbieten müsse, wenn man gewaltsam in die Wohnung einbreche. So wolle es die Direktive. Ich sagte sorry – und hängte auf. Plötzlich war mir alles zu viel: Polizei, Feuerwehr, Tür aufbrechen, lange Erklärungen – und das alles in Unterhosen. Ich hatte innerlich resigniert, wollte nur noch meine Ruhe haben. Schlafen.

Plan VII: Schmerztablette einwerfen

Es war unterdessen 2.30 Uhr, als ich mich zurück im Badezimmer auf ein Nest aus Badetuch und Türvorleger legte. Zuvor hatte ich präventiv eine Schmerztablette eingeworfen, nun wartete ich auf die Wirkung. Sie setzte relativ schnell ein, und ich schlief – erstaunlich bald, erstaunlich gut. Um 7.30 Uhr wachte ich auf, stolperte halb nackt ins «Zum Guten Glück» und holte den Notschlüssel. Noch bevor der Mann hinter der Bar Luft für die erste dumme Frage holen konnte, meinte ich: «Frag nicht, gib mir den Schlüssel.»

Plan VIII: Aus Fehlern lernen

Nur Spott und Häme habe ich bisher für diese Geschichte geerntet. Das ist okay. Was nervt, sind all die Besserwisser: Hättest du doch! Warum hast du nicht? Dabei bin ich bis heute überzeugt, mein Bestmögliches getan zu haben. Und wie sagte der deutsche Fussballmanager Rudi Assauer doch so schön: Erst wenn der Schnee geschmolzen ist, sieht man, wo die Kacke liegt. Oder: Im Nachhinein ist man immer schlauer.

Die Moral von der Geschichte

Und ja: Ich habe die beiden Türknäufe mittlerweile durch ganz gewöhnliche Türfallen ersetzt...