Düster ist es im sechsten Stock des Neufeldhauses. Decken und Wände sind grau, der Linoleumboden ausgetreten, die Türrahmen von jahrzehntelangem Gebrauch gezeichnet. Im gemeinschaftlichen Sanitärraum blättern Farbe und Putz von Wänden, die wohl in den letzten 40 Jahren keinen Pinsel mehr gesehen haben. Eine Renovation ist seit neun Jahren hängig, allein es fehlt das Geld.

Bereits 30 Jahre lebt Andreas Lochbrunner hier im Berner Blindenheim, bislang gerne. Doch Anfang 2004 ist ihm die Freude an seinem Zuhause vergangen: Sein Kostgeld wurde um 3000 Franken auf 7140 Franken erhöht. Monatlich. Übers Jahr gerechnet, ergibt sich die stolze zusätzliche Summe von 36000 Franken.

«Mehr als 7000 Franken sind bei diesem Ausbaustandard schon ein unverschämter Betrag, zumal ich nicht einmal ein eigenes WC, geschweige denn ein eigenes Badezimmer habe», ärgert sich Lochbrunner. «Ich kann mir nicht erklären, wieso ich bei gleicher Leistung fast doppelt so viel bezahlen soll.»

Auch in der Pflegebranche wundert man sich ob dem exorbitanten Kostensprung. «Ich finde es sehr merkwürdig, wenn sich das Kostgeld eines Heimbewohners ohne nennenswerte Veränderung in der Betreuung fast verdoppelt. Da sind grosse Fragezeichen angebracht», sagt etwa Kurt Meier, Leiter der Behindertenwerke Oberemmental.

Falsch eingestuft?


Im Kanton Bern werden Behinderte, die in Heimen leben, vom Heimpersonal nach dem so genannten Roes-Punktesystem beurteilt. Je höher der Pflegebedarf, desto mehr Roes-Punkte erhält der Betroffene. Die Punktzahl wird in ein zentrales System mit zehn Tarifstufen überführt, die wiederum bestimmen, wie hoch das zu bezahlende Kostgeld ist.

Anfang 2004 war die Umrechnung von Roes-Punkten neu festgelegt worden. Das hatte für einen Teil der Behinderten massiv höhere Kosten zur Folge: Wer 2003 beispielsweise 28 Roes-Punkte hatte, bezahlte 176 Franken pro Tag. 2004 schlug dieselbe Anzahl Punkte plötzlich mit 299 Franken zu Buche. Selbstzahler wie Andreas Lochbrunner, die keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben, trifft es besonders hart. Erarbeitet wurde die Gleichschaltung der beiden Systeme vom Berner Alters- und Behindertenamt Alba, das der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Berns angegliedert ist.

Als der Blinde sich bei der Heimverwaltung über die Gründe für die horrende Preiserhöhung erkundigte, berief sich Heimleiterin Trudy Aebischer auf kantonale Vorgaben zur Tarifgestaltung. Mit seiner Anzahl Roes-Punkte sei eine Einstufung auf Stufe fünf korrekt.

Bei Stufe fünf wird davon ausgegangen, dass der Behinderte einen täglichen Pflege- und Betreuungsaufwand von rund zweieinhalb Stunden benötigt und damit mittelschwer pflegebedürftig ist. Diese Einstufung ist bei dem 53-Jährigen allerdings schwer nachvollziehbar: Andreas Lochbrunner bewegt sich selbstständig, geht einkaufen, bewältigt seine Körperpflege selber, weiss seinen Computer zu bedienen und spritzt sich jeden Abend zweimal Medikamente. Ab und an besucht er Schulklassen, um den Kindern vom Blindsein zu erzählen und ihnen die Befangenheit gegenüber Blinden zu nehmen.

Auf den Fall Lochbrunner angesprochen, reicht Markus Loosli, Vorsteher des Berner Alters- und Behindertenamts, den schwarzen Peter vorerst ans Neufeldhaus weiter. «Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass jemand, der sich so im Alltag bewegen kann, als mittelschwer pflegebedürftig taxiert ist, selbst wenn es sich um einen blinden Menschen handelt», sagt er. «Sollte Herr Lochbrunner nicht einen täglichen Aufwand von rund zweieinhalb Stunden verursachen, ist er vermutlich mit Stufe fünf falsch eingestuft.»

Auf der falschen Pflegestufe sieht sich auch der Betroffene selbst. «Ich erhalte nie und nimmer über zwei Stunden Betreuung oder Pflege pro Tag», betont er. Tatsache ist, dass das Roes-System viel Raum für Interpretation lässt. «Fremd- und Selbstwahrnehmung stimmen häufig nicht überein», führt Heimleiterin Aebischer zudem ins Feld – ein Argument, das kaum auszuhebeln ist, insbesondere nicht durch den Betroffenen selbst.

Fehler nicht ausgeschlossen


Aufgeschreckt durch die Recherchen des Beobachters, sind sowohl die Heimleitung als auch der Kanton mittlerweile zur Einsicht gelangt, dass Fehler nicht ausgeschlossen werden können und Aufklärungsbedarf besteht. «Wegen des Falles Lochbrunner werden wir unser System auf allfällige Mängel hin unter die Lupe nehmen», versichert Alba-Vorsteher Loosli.

«Die Einstufung von Herrn Lochbrunner wird von der zuständigen Ombudsstelle überprüft. Betreffend grundsätzlicher Fragen zum Einstufungsbogen Roes laufen mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern sowie dem Heimverband Bern Gespräche», sagt Heimleiterin Aebischer. «Sollte das laufende Verfahren ergeben, dass beim Neufeldhaus Fehler passierten, werden wir diese selbstverständlich umgehend beheben.»

Allfällige Fehler zu beheben könnte das Blindenheim teuer zu stehen kommen: Dies würde auch bedeuten, dass Andreas Lochbrunner zu viel bezahltes Geld zurückerhält – wie auch die anderen Heimbewohner im Neufeldhaus, die in diesem Jahr für ihre Unterbringung weit mehr berappen mussten als noch im Jahr zuvor.