Im November erhielten die Mieterinnen und Mieter am Sihlquai 280 und 282 Post von ihrer Vermieterin. «Totalsanierung und komplette Umnutzung» der Räumlichkeiten, heisst es im Schreiben, was bedeutet: Kündigung aller Mietverhältnisse.

25 Menschen müssen ihr Zuhause im historischen Industriehaus direkt an der Limmat verlassen. Darunter Familien mit Kindern, Menschen im Rentenalter und Personen, die teils seit 30 Jahren dort leben. Solche, die die offene Drogenszene und den berüchtigten Strassenstrich im Kreis 5 miterlebt haben. Auch die «Schreinerei am Fluss» im Erdgeschoss soll bis Ende März weg sein.

Die Liegenschaft gehört Coop und mit Umnutzung der Räumlichkeiten meint die Genossenschaft: Alles muss raus. Das Gebäude wird saniert und soll künftig den Swissmill-Mitarbeitenden des grossen Betonturms nebenan als Labor und Büro dienen. Das Baugesuch ist bereits eingereicht.

Investition in Büroräume sinnvoll?

Das stösst bei den Mieterinnen und Mietern sauer auf. Zum einen, weil sie sich die Frage stellen, warum in dieser Zeit Coop traditionelle Büroräume dem aufkommenden Home-Office vorzieht.

«Wir sind hier verwurzelt. Wir wollen unser langjähriges Zuhause nicht verlieren», sagt einer der Mieter, der zu einer Interessengemeinschaft gehört, die sich gegen das Vorgehen von Coop wehren will. Gespräche mit der Genossenschaft hätten bisher nicht gefruchtet. Stattdessen habe sie den Mieterinnen und Mietern eine Alternative vorgeschlagen: Wohnungen im Letzipark in Altstetten, die ebenfalls die Coop Genossenschaft verwaltet. Die Ironie: Dort kündigte sie vor neun Jahren rund 70 Mieterinnen und Mieter die Wohnung – wegen Totalsanierung.

Die Wohnungen sollen nun in den ersten sechs Monaten zum selben Mietzins wie am Sihlquai angeboten werden und anschliessend in gestaffelten Mietzinserhöhungen teilweise das Vierfache der jetzigen Wohnungen kosten. «Viele von uns können sich das nicht leisten», sagt ein Betroffener.

Auf die Alternativen will sich ein Teil der Mieterschaft darum nicht einlassen. Sie will günstige Wohnungen mitten im Kreis 5 nicht aufgeben und will eine Petition gegen die Umnutzung lancieren.

«Diversität in Quartieren ist wichtig»

Walter Angst, Sprecher des Mieterverbandes Zürich und Gemeinderat der Alternativen Liste, unterstützt das Vorgehen. «Es geht in diesem Fall auch darum, Wohnraum im Quartier zu erhalten.» Nicht nur, weil bezahlbare Wohnungen in der Stadt sonst schon Mangelware seien. «Die Diversität in Quartieren aus Industrie, Gewerbe und Wohnen ist wichtig. Das schreibt sich die Stadt schliesslich gross auf die Fahne.»

Coop begründet die Kündigungen damit, dass das Gebäude am Sihlquai sanierungsbedürftig sei und auf dem Areal nicht nur Büros, sondern auch Labore für Getreide und Mehl sowie eine Versuchsbäckerei entstehen würden. Betriebliche Anpassungen seien nötig, um auch in Zukunft den Versorgungsauftrag wahrnehmen zu können und den Standort mit seinen Arbeitsplätzen zu sichern.

Gebrochener Deal?

Mittlerweile beschäftigt sich auch die Politik mit dem Fall. Am Mittwoch reichten AL, SP und Grüne der Stadt Zürich ein Postulat beim Stadtrat ein, der sich nun mit der geplanten Umnutzung auseinandersetzen soll. Auch die aus dem Quartier stammenden Gemeinderäte Stefan Urech von der SVP und Nicolas Cavalli von der glp haben unterzeichnet. «Die Stadt soll Coop auffordern, das Vorhaben nochmals zu überdenken», sagt Angst vom Mieterverband.

Den 118 Meter hohen Swissmill-Turm und die Stadt Zürich verbindet eine spezielle Vergangenheit. Daran erinnert GLP-Gemeinderat Nicolas Cavalli. Das Vorgehen der Mieterschaft unterstützt er als Vertreter des Kreis 5. Seine Fraktion vertritt eine andere Meinung. «Ich erinnere mich an die Swissmill-Abstimmung vor zehn Jahren. Ich war fasziniert davon, dass mitten in der Stadt Korn gemahlen und Brot für alle produziert wird – und dass Zürich dafür sorgt, dass die Innenstadt Platz für alle hat.»

Die Coop-Genossenschaft habe damals den Abstimmungskampf um den Gestaltungsplan «Kornhaus Swissmill» vor dem Stimmvolk wohl nur gewonnen, weil sie viele Versprechen machte. «Die Industrie, Arbeitsplätze, Kultur und Wohnen sollten im Quartier erhalten bleiben – ich zumindest hatte das als klares Versprechen verstanden. Dafür durfte Swissmill den Getreideturm bauen.» Doch die angepriesene Durchmischung scheint heute weniger relevant. «Das ist sehr bedauernswert», sagt Cavalli.

«Ich finde, dass Coop auf ihre eigenen Argumente während dem Abstimmungskampf aufmerksam gemacht werden muss.»

Nicolas Cavalli, Zürcher GLP-Gemeinderat

Doch soll und darf die Stadt deswegen in das Gestaltungsrecht der Privateigentümerin eingreifen? «Diese Frage ist berechtigt. Ich finde jedoch, dass Coop auf ihre eigenen Argumente während dem Abstimmungskampf aufmerksam gemacht werden muss.» Es sei letztlich nicht nur Aufgabe der Stadt, für bezahlbaren Wohn- und Gewerberaum zu sorgen. «Auch Private sollen sich dafür einsetzen.»

Walter Angst vom Mieterverband findet krassere Worte: «Es ist ein Bruch mit dem ganzen Deal, den die Stadt und Coop rund um den Swissmill-Tower abgeschlossen hatten.» Auch sei es für Coop machbar, einen anderen Standort für Büros und Labore zu finden, der in nächster Nähe neben der Mühle sei. Der Detailhändler widerspricht: «Die Mühle ist einer der letzten Industriebetriebe der Stadt, ein wichtiger Arbeitgeber und wichtiger Teil der Durchmischung der Nutzungen im Quartier.»

Keine Sorge vor Reputationsschaden

Rechtlich ist das Vorhaben der Genossenschaft kaum problematisch. Als Eigentümerin darf Coop Kündigungen fristgerecht aussprechen. Nur die Schreinerei im Erdgeschoss verfügt über einen Mietvertrag bis 2022, der nicht einfach aufgelöst werden kann. Auch darf Coop die Fläche gemäss Zürcher Stadt- und Raumplanung umnutzen. Ob das Bauvorhaben bewilligungsfähig ist, wird die Stadt entscheiden.

Angst fügt an: «Normalerweise haben Detailhändler mit grossen Produktionsstätten in Zürich Interesse daran, solche Pläne mit den lokalen Behörden abzusprechen.» Coop habe das Projekt aber kommentarlos eingereicht. «Die Genossenschaft muss sich nun überlegen, ob sie das gute Verhältnis mit der Stadt riskieren will.» Schliesslich hätten Coop und Zürich eine langjährige Geschichte. «Früher war das der Lebensmittelverein LVZ und ein integraler Bestandteil der Stadt; ein Produkt aus der Arbeiterbewegung.» Coop habe eine Tradition in Zürich – und nun eine Reputation zu verlieren, indem man Existenzen aufs Spiel setze. «Ich frage mich: Ist das das Profil von Coop?»

Coop selbst sagt, man sei vor dem Einreichen des Baugesuchs mit den Behörden sehr wohl in Kontakt getreten.

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