Was erzählen Sie denn da? Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas gibt!», klingt es verblüfft aus der Leitung. Am Telefon hört sich Frau Rothenbühler eigentlich sehr nett an. Im Internet steht über sie: «Herrschsüchtige, hasserfüllte Hexe, die denkt, sie sei das Zentrum der Welt. Terrorisiert, wen immer sie kann.» Zu lesen sind diese wenig schmeichelhaften Zeilen inklusive Name, Lageplan und Stockwerknummer auf der Website rottenneighbor.com.

Die Internetseite ist ein globaler Online-Pranger gegen «miese Nachbarn», wie sie übersetzt heisst. Auf einer Weltkarte kann man sich bis in kleinste Strassen zoomen, ein beliebiges Haus anklicken und einen Kommentar über deren Bewohner platzieren. Der Verfasser muss sich mit einer gültigen E-Mail-Adresse registrieren, bleibt aber anonym. Die Angeschwärzten hingegen werden oft genug namentlich genannt. Frau Rothenbühler kommt als «Hexe» noch gut weg. Anderen werden Straftaten nachgesagt. «Zwei nette Juniors, einer dealt mit Kokain, der andere klaut Gras und verkaufts», steht an einer Adresse in einer kleinen Berner Gemeinde, und in einem Dorf im Kanton Solothurn weist ein Eintrag in Englisch auf einen angeblichen fünffachen Mörder hin.

Die Website wird im kalifornischen Santa Barbara betrieben. Laut ihrem Erfinder handelt es sich um einen Dienst für Personen auf Haussuche: Bevor sie umziehen, sollen sie sich ein Bild von der Nachbarschaft machen können. Ob die Einträge der Wahrheit entsprechen, prüft freilich niemand. Die Plattform ist eine reine Denunziermaschine, und die Einträge sagen vermutlich mehr aus über ihre Verfasser als über die angeschwärzten Personen. Wer also tut so etwas? In Frage kommen zunächst die üblichen Verdächtigen: notorische Querulanten, Nörgler, Feiglinge und Leute, die nichts Besseres zu tun haben.

«Es sind vermutlich die gleichen Menschen, die im Treppenhaus Zettel aufhängen, statt mit den Nachbarn zu sprechen», glaubt der Zürcher Psychoanalytiker Peter Schneider. Der Verleumder schlummere aber in uns allen: «Wir kennen doch alle dieses Gefühl, wenn wir glauben, uns sei Unrecht geschehen und wir seien dagegen machtlos. In solchen Ohnmachtsstimmungen mit gleichzeitiger Wut kommen Gelegenheiten wie diese Website gerade recht.»

Vom Bedürfnis, andere schlechtzumachen

Persönliches Unbehagen wird immer häufiger auf diese Art geäussert. Im August 2007 wurde die Website aufgeschaltet und anfangs vor allem in den USA genutzt. Mittlerweile sind auch in der Schweiz in fast jeder Gemeinde rot markierte Häuser und diffamierende Zeilen über deren Bewohner zu finden.

Der Beobachter hat Betroffene angerufen und darauf aufmerksam gemacht. Die Reaktion war stets die gleiche: basses Erstaunen, gefolgt von Mutmassungen zum Täter. Fast alle hatten einen Verdacht. Eben dies ist Teil des Erfolgsrezepts des Internet-Prangers: «Der Verfasser möchte im Grunde zumindest mutmasslich vom Opfer erkannt werden. Doch weil es eben eine Mutmassung bleibt, kann man ihm nichts anhaben», erklärt der Zürcher Soziologe und Medienwissenschaftler Kurt Imhof. Er spricht von einer «Barbarisierung der öffentlichen Kommunikation».

Über andere zu lästern gehört zum menschlichen Dasein. Das Gerede über Abwesende erfüllt sogar wichtige gesellschaftliche Funktionen. «Klatsch ist ein Ventil. Man kann seinen Ärger über andere loswerden, ohne direkte Folgen in Kauf nehmen zu müssen. Und man bewegt sich dennoch innerhalb der gesellschaftlichen Normen», so Imhof. Im Unterschied zum Internet-Pranger sei Klatsch aber stets sozial eingebettet: Wer falsche Gerüchte verbreitet, fliegt unter Umständen auf. «Diese Grenzen fehlen beim Internet.» Klatsch sei eigentlich als Fortschritt der Zivilisation zu verstehen – die Blutrache wurde aufgegeben. Mit Pranger-Websites müsse man diesen Fortschritt indes hinterfragen: «Solche Einträge kommen im Extremfall einer sozialen Tötung von Personen gleich.»

Und nicht nur das: Cyberbullying, wie Fachleute das Phänomen nennen, hat bereits Leute in den Selbstmord getrieben. Es manifestiert sich auch auf anderen Plattformen wie Blogs und Foren, in sozialen Netzwerken oder auf Internet-Bewertungsportalen. Verschmähte Liebhaber stellen Nacktfotos der Angebeteten ins Netz, eine Girl-Gang verschwört sich mit einer Facebook-Gruppe gegen eine ungeliebte Kameradin, Jugendliche publizieren einen Handyfilm, der einen Kollegen im Vollrausch zeigt.

Solche Bilder und Filme werden längst nicht immer mit böser Absicht erzeugt. Es kann sein, dass Mädchen mit dem Handy ein paar lustige Fotos in eindeutigen Stellungen von sich machen und diese an weitere Freundinnen verschicken. Ist man sich plötzlich feind, kann es schnell geschehen, dass die «lustigen» Bilder im Netz landen.

Allzu sorgloser Umgang mit dem Internet

«Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern und Lehrpersonen sind sich dessen viel zu wenig bewusst und wissen nicht, dass die Veröffentlichung von Bildern eigentlich das Einverständnis der Gezeigten erfordert», konstatiert Karolina Frischkopf, Leiterin von Ecpat Switzerland, einer Fachstelle der Stiftung Kinderschutz Schweiz. Für die Fachfrau ist klar: Die Medienkompetenz muss an den Schulen viel stärker gefördert, Eltern und Erziehungspersonen sensibilisiert werden.

Es komme auch vor, dass Jugendliche von sich selber pornographisch gefärbte Fotos ins Internet stellten, etwa bei Profilen in sozialen Netzwerken. «Sie sagen, sonst klicke sie ja niemand an.» Ein gefundenes Fressen für Pädosexuelle. Für den Umgang mit dem Internet hat Frischkopf einen einfachen Tipp: «Alles, was man auf einem öffentlichen Platz nicht tun würde, sollte man auch in der Scheinanonymität des Internets nicht tun.»

Auch auf rottenneighbor.com können Nutzer inzwischen Fotos und Filme veröffentlichen. Kläffende Hunde, ein Mann, der den ganzen Tag über mit seinem Rasenmäher Runden dreht, Sexgeräusche von gegenüber: Alles, was am Nachbarn nervt, wird gefilmt und veröffentlicht. Persönlichkeitsschutz scheint inexistent. Fragt sich, was man als Betroffener dagegen unternehmen kann. Die Antwort ist einfach: nichts.

Machtlos gegen ausländische Betreiber

Grundsätzlich besteht zwar die Möglichkeit, einen Eintrag mit einer roten Flagge zu versehen und mit einer Begründung in Englisch die Löschung zu beantragen. Ein Luzerner Garagist, der diffamiert wird und anonym bleiben möchte, hat es versucht. Der Eintrag verschwand tatsächlich, jedoch nur für kurze Zeit. Wenige Tage nach der Löschung wurde er erneut publiziert. Hauswart Martin Burri wird auf rottenneighbor.com als «arroganter Arschkriecher, der alle belästigt und dumm anmacht» bezeichnet. Als er vom Eintrag erfuhr, ging er zur Polizei. Auch diese markierte den Eintrag mit Flagge – vergeblich.

Der auf IT-Recht spezialisierte Basler Jurist David Rosenthal rät deshalb, den Verantwortlichen der Website oder den Provider per E-Mail oder in einem Schreiben direkt anzugehen. «Wenn es sich um klar ehrverletzende Einträge handelt, werden sie daraufhin meist gelöscht.» Eine Klage gegen einen ausländischen Provider wie im Fall von rottenneighbor.com sei zeitraubend, teuer und bringe in der Regel nichts. «Sie verhindert nicht, dass der Eintrag kurz darauf wieder unter anderem Namen eingetragen wird.»

Wenig ausrichten gegen das öffentliche Diffamieren kann auch der eidgenössische Datenschutzbeauftragte. Weil die Betreiberfirma in den USA sitzt und die Datenschutzgesetze dort weniger rigide sind, kann er nichts bewirken. Bestehen jedoch Anhaltspunkte zum Urheber des Eintrags und stammt er aus der Schweiz, kann sich ein Gang zu den Behörden lohnen, sagt IT-Jurist Rosenthal. «Mit Angaben wie etwa der IP-Adresse lassen sich bei Internet-Straftaten mit Hilfe des Providers durchaus auch scheinbar anonyme Täter identifizieren.»

Frau Rothenbühler – wir erinnern uns: «herrschsüchtig» und «hasserfüllt» – tröstet sich derweil anderweitig: «Das, was mir da angehängt wird, trifft im Grunde auf den Verfasser selber zu», meint sie. Ernst genommen wird die Website von denjenigen, an die sie sich offiziell richtet, jedenfalls nicht. Beim Verband der Immobilien-Investoren hat man noch nie davon gehört, beim Hauseigentümerverband misst man ihr keinerlei Bedeutung zu, und bei Swiss Life und Livit, den grössten Schweizer Immobilien-Investoren, ist sie schlicht kein Thema.