Beobachter: In der Schweiz arbeiten Beschäftigte für 14 Franken die Stunde. Kann man damit überhaupt zufrieden sein?
Gudela Grote: Das ist nicht die Frage. Viele Beschäftigte stehen vor der Entscheidung: gar kein Lohn - oder wenigstens ein bisschen Lohn. Wer mehr Chancen hat auf dem Arbeitsmarkt, würde nie zu einem derart tiefen Lohn arbeiten, aber wer wenig qualifiziert ist oder lange arbeitslos war, ist um jeden Job erst einmal froh.

Beobachter: Sie haben mit einer Studie die Arbeitszufriedenheit der Schweizer ermittelt. Ein Resultat: Der Lohn sei gar nicht so wichtig. Wie erklären Sie das jemandem, der 14 Franken pro Stunde verdient?
Grote: Sobald jemand seine Alltagsbedürfnisse abdecken kann, ist der Lohn nicht mehr so zentral. Dann werden andere Aspekte wichtiger - wie Mitbestimmung, gegenseitige Erwartungen, gute Kommunikation. Diese psychologischen Faktoren sind vielen Arbeitenden sogar wichtiger als der Lohn in Franken und Rappen. Aber klar gibt es Grenzen: Wer deutlich weniger verdient als andere Leute mit derselben Beschäftigung, empfindet das als ungerecht und reagiert frustriert. Bei ganz tiefen Löhnen ist es unwahrscheinlich, dass jemand damit über längere Zeit zufrieden ist. Denn es hat immer auch mit Selbstvertrauen zu tun: Wenn jemand ständig über die Lohntüte bestätigt erhält, dass er in unserer Gesellschaft nicht viel zählt, dann wird das zu einer tiefen Unzufriedenheit führen.

Beobachter: Erstaunlich an Ihrer Untersuchung ist, dass 38 Prozent der Befragten keine klare Meinung zu ihren Gehältern haben, sie also weder als hoch noch als tief einschätzen. Wie kommt das?
Grote: Hier zeigt sich, dass man in der Schweiz einfach nicht gern über Lohnfragen spricht, besonders nicht, wenn man wenig verdient. Geld ist ein Tabu; man will vermeiden, als geldgierig dazustehen. Andere schämen sich für ihr tiefes Gehalt, weil sie zu gesellschaftlichen Verlierern gestempelt werden. «Ich habe zu wenig, ich brauche mehr» - das sagt in der Schweiz niemand gerne. Oder man sagt zu seinem eigenen Schutz, Geld sei einem nicht so wichtig.

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Beobachter: Da liegt doch ein Widerspruch: Wenn Geld nicht so wichtig wäre, würde man doch offen darüber reden...
Grote: Das stimmt, beim Geld gibt es viele Widersprüche. Wenn man die Schweiz mit den Nachbarländern vergleicht, dann ist augenfällig, wie sehr sich die Schweizer in Geldfragen zurückhalten. In Deutschland etwa wird ständig gefragt, wie viel das kostet und wer wie viel verdient. Es wäre wichtig, dass die Löhne auch hier transparenter werden. Da sind die Firmen gefordert, ihre Lohnsysteme offenzulegen. Denn erst wenn man Gehälter vergleichen kann, wird mehr Lohngerechtigkeit überhaupt möglich. Viele Arbeitgeber fürchten sich davor: Kommen Ungerechtigkeiten ans Licht, geraten sie in einen Erklärungsnotstand und fürchten Begehrlichkeiten.

Beobachter: In Deutschland arbeiten manche Beschäftigte heute schon für gerade mal drei Euro die Stunde. Wie billig darf Arbeit noch werden?
Grote: Der Lohn soll die Leistung, die jemand für eine Firma erbringt, angemessen würdigen. Und es kann schlicht nicht sein, dass jemand so wenig leistet, dass sein Salär sogar unter den Mindestlöhnen der Gesamtarbeitsverträge liegt. Diese Verträge sind sehr wichtig; damit können die Arbeitnehmenden in der Schweiz vor den Dumpinglöhnen geschützt werden, die in vielen europäischen Ländern schon verbreitet sind.