Auf einer Party im Gemeinschaftszentrum Heuried kam es zwischen einem 17-Jährigen und zwei anderen Jugendlichen zu verbalen Streitereien. Als sich die Auseinandersetzung nach draussen verlagerte, drangen die beiden Jugendlichen mit einem Messer auf den 17-Jährigen ein und verletzten ihn schwer.» Diese nüchterne Polizeimeldung im besten Protokolldeutsch erregte Mitte Januar in Zürich kurz Aufsehen, wenige Tage später war sie vergessen – dabei enthält sie gesellschaftlichen Zündstoff.

Mario Antonelli, Leiter Jugendfragen beim Kaufmännischen Verband Schweiz, kennt den Hintergrund der jungen Männer, die an der Messerstecherei beteiligt waren: keine Lehrstelle, kein Geld, keine gesellschaftliche Anerkennung. «Es ist kein Zufall, dass eine derartige Perspektivlosigkeit in Gewalt eskaliert», meint er.

Der Zürcher Fall ist exemplarisch. So sagt etwa Beat Burkhardt, Leiter der Jugendanwaltschaft Basel-Stadt, dass die erwerbslosen Jugendlichen zurzeit «vor allem durch Gewalt oder Cannabiskonsum auffallen». Das Problem fange dann an, wenn die Jungen über längere Zeit keine Stelle finden und merken, dass sie keine Perspektiven haben. «Dann wollen sie das auf irgendeine Art kompensieren.»

Risikofaktor «viel Zeit, wenig Geld»


Auch Urs Baumeler, Leiter der Jugendanwaltschaft des Kantons Luzern, sieht einen «deutlichen Zusammenhang» zwischen der wachsenden Zahl arbeitsloser Jugendlicher und der Zunahme von Jugendkriminalität. Die Kombination aus «viel Zeit und wenig Geld» verleite die Jugendlichen immer öfter zu Diebstahl und Raub, um so ihre Konsumbedürfnisse zu erfüllen.

Wie akut das Problem ist, zeigt die Statistik des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco): Ende Januar 2004 waren 31'500 Personen im Alter von 15 bis 24 Jahren bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) als stellenlos gemeldet. Dies entspricht einer Quote von 5,7 Prozent – saisonal bedingt deutlich höher als der Jahresdurchschnitt 2003 (26100 Personen; 4,7 Prozent) und fast doppelt so hoch wie 2002 (16400; 3,0 Prozent).

Überproportional steigt die Arbeitslosenquote bei der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen, jenen Leuten also, denen nach Abschluss der Ausbildung der Einstieg in die Arbeitswelt verwehrt bleibt. Laut Bernhard Weber, Arbeitsmarktspezialist beim Seco, ein bekanntes Phänomen in wirtschaftlichen Krisenzeiten: «Wenn in Unternehmen Stellen gestrichen werden, fällt die mangelnde Berufserfahrung der Jungen besonders ins Gewicht.»

Wer bei der beruflichen Integration zwischen Stuhl und Bank fällt, läuft Gefahr, auch gesellschaftlich ins Offside zu geraten. «Für junge Erwachsene gehört der Eintritt in die Arbeitswelt und die Ablösung von der Familie zu den wichtigsten Phasen ihrer Entwicklung», sagt Rita Vonlanthen, Koleiterin der Jugendberatung der Stadt Zürich. Wenn junge Menschen signalisiert bekommen, dass sie in der Berufswelt nicht gebraucht werden, ist das schädlich für ihre Identitätsentwicklung.

Junge Menschen in dieser Lage fühlten sich ausgeschlossen und könnten sich entsprechend destruktiv verhalten. «Die Defizite, die solche Identitätskrisen bei den Jugendlichen hinterlassen, können sich bis in spätere Lebensphasen negativ auswirken», sagt der Zürcher Soziologieprofessor François Höpflinger. Deshalb stuft er die Arbeitslosigkeit bei jungen Leuten als viel gravierender ein als bei älteren Personen. Ähnlich argumentiert auch Jugendberaterin Vonlanthen: «Wer als junger Mensch keine Chance in der Arbeitswelt bekommt, findet seinen Platz in der Gesellschaft nicht und wird in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt.»

Warnung vor einer Entwarnung


Die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik schweigen sich über diese versteckten Auswirkungen der Jugendarbeitslosigkeit aus oder bauen auf das Prinzip Hoffnung und eine anziehende Konjunktur, die das Problem von selbst löst. «Die Arbeitslosigkeit geht bei Jungen im Aufschwung rascher zurück als bei den anderen Alterssegmenten», sagt Wirtschaftsminister Joseph Deiss (siehe «Staatlicher Zwang bringt nichts»). Die Konjunkturforschungsstelle KOF hingegen warnt vor der Entwarnung: Die Entspannung des Arbeitsmarktes zwischen 1997 und 2000 habe die Jugendarbeitslosigkeit nicht nachhaltig entschärft. Und auch künftig werde «selbst eine durchgreifende Verbesserung der Arbeitsmarktlage das Problem junger Arbeitsloser mit geringer beruflicher Qualifikation nur wenig lindern».

Auch Peter Sigerist, Bildungssekretär beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, lässt sich von den im letzten Jahr kurzfristig erzielten Verbesserungen im Lehrstellenangebot nicht blenden. «Es braucht mehr Erststellen, damit die ausgebildeten Berufseinsteiger nachhaltig im Arbeitsmarkt Fuss fassen können.» Dies umso mehr, als von einer beträchtlichen Dunkelziffer ausgegangen wird: «Viele junge Stellenlose melden sich nicht beim RAV, sondern schlagen sich sonst irgendwie durch.»

Ziellosigkeit führt zu Spannungen


Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich viele Jugendliche gar nicht bewusst sind, dass sie nach der obligatorischen Schulzeit Anspruch auf Unterstützung haben. So bleiben sie im günstigen «Hotel Mama», erledigen dann und wann einen Gelegenheitsjob und verbringen die Zeit vor dem Fernseher oder mit Nichtstun. Wer kein Geld hat, kann an vielem nicht teilhaben. Nicht selten endet diese Ziellosigkeit mit Spannungen im Elternhaus. Doch die einzige Möglichkeit, sich von zu Hause abzunabeln und eine eigene Existenz aufzubauen, liegt darin, eine bezahlte Arbeit zu finden. Womit der Kreis geschlossen ist.

Mario Antonelli vom KV Schweiz ist deshalb dafür, die Wirtschaft stärker in die Pflicht zu nehmen. Denn die Abbaumassnahmen in Firmen würden häufig zu deren Rückzug aus der Ausbildungsverantwortung führen. «Und für jede Stelle eines Lehrlings oder Berufseinsteigers, die die Wirtschaft wegspart, zahlt die Gesellschaft über Arbeitslosenkasse, Sozialbehörden oder Brückenangebote ein Mehrfaches.»

Damit es nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt, plädiert Antonelli für ein griffiges Bonussystem: Betriebe, die ausbilden, werden entschädigt, die anderen zahlen in einen nationalen Ausbildungsfonds ein. Auch auf dem politischen Parkett ist die Idee von Anreizmodellen, Kern der 2003 klar verworfenen Lehrstelleninitiative, salonfähig. So spricht sich etwa CVP-Nationalrätin Doris Leuthard für Steuerabzüge für Betriebe mit Ausbildungsplätzen aus (siehe «Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit»).

Geregelten Tagesablauf ermöglichen


Konkret an der Behebung der Misere wird in verschiedenen kantonalen, privaten oder von den Gemeinden initiierten Brückenangeboten gearbeitet, die den Jugendlichen den Eintritt in die Arbeitswelt ermöglichen sollen. «Wir sind dankbar, dass es diese Angebote gibt», so die Zürcher Jugendberaterin Rita Vonlanthen. «Für viele Jugendliche sind sie die einzige Möglichkeit, wieder einen geregelten Tagesablauf zu erleben und etwas zu tun zu haben.»

Endlich wieder eine Beschäftigung zu haben ist auch für Mike Antoniol, 23, ein wichtiger Grund, weshalb er beim Integrationsprojekt Boa Schaffhausen (Bildung, Orientierung, Arbeit) des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH) dabei ist (siehe «Funda Senyürek», und «Mike Antoniol», Seite 21). Wie die meisten anderen Projekte strebt das Boa die «nachhaltige Integration der jungen Leute in den ersten Arbeitsmarkt» an. Ähnlich funktioniert auch das zweite Projekt des SAH, Move on in Fehraltorf, das seit Anfang Jahr im Aufbau ist (siehe «Mirco Kienast», oben). Ziel aller Projekte ist es, die Jugendlichen fit für den Arbeitsmarkt zu machen: Jobtraining, Vorstellungsgespräche üben, Bewerbungen schreiben und Berufspraxis trainieren.

Etwas andere Akzente setzt das Job- und Videotraining Szenario in Horgen. Hier müssen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die im Durchschnitt zwischen 19 und 25 Jahre alt sind, innerhalb von zwölf Wochen einen Videofilm realisieren (siehe «Pedro Reboredo»).

«Etwas Eigenes durchzuziehen gibt den Jungen ein Erfolgserlebnis, das sie dringend nötig haben», ist Jobtrainerin Angela Cadruvi von Szenario überzeugt. Als Trainerin lerne man bei den Videoprojekten viel über das Verhalten der Jugendlichen und könne daraus Rückschlüsse auf ihr Funktionieren in der Arbeitswelt ziehen. «Video ist ein attraktives Medium für die Jungen.» Über 400 junge Menschen haben bereits das Training bei Szenario absolviert, etwa ein Drittel der Teilnehmer findet danach einen Job. «Wir merken, dass es härter geworden ist auf dem Arbeitsmarkt», so Cadruvi.

Unter realen Bedingungen arbeiten


Auf mehr Praxisnähe setzt das Programm des Zürcher Vereins Access, der unter anderem vom kantonalen und vom städtischen Gewerbeverband getragen wird. In fünf Miniunternehmen erleben seit letztem Oktober 60 Jugendliche unter realen Bedingungen, wie die Wirtschaft funktioniert (siehe «Claudia Näf»).

«Unsere Arbeitsweise ist die Antwort auf die gestiegenen Anforderungen, die eine Berufslehre heute stellt», erklärt Programmleiterin Sylvia Meyer. Sie sieht unabhängig von der Wirtschaftslage einen grossen Handlungsbedarf, «an der Schnittstelle zwischen Ausbildung und Beruf Lücken zu schliessen». Access hat denn auch bereits ein weiteres Projekt im Auge: Es soll dazu beitragen, dass junge Leute mit Lehrabschluss leichter eine erste «richtige» Stelle finden.

Weniger Lehrabgänger übernommen


Das tut Not. Denn selbst in den Grossunternehmen ist es längst nicht mehr selbstverständlich, dass die eigenen Lehrabgänger mit einem Stellenangebot rechnen können. Die UBS etwa übernahm im vergangenen Jahr nur noch 65 Prozent ihrer Stifte, während es zuvor stets um die 80 Prozent waren. Auch bei der Zürich-Versicherung lag die Übernahmequote letztes Jahr bei lediglich 60 Prozent.

Solange die Grossen derartige Signale senden, ist es im Kleinen umso mühsamer dagegenzuhalten. Beispiel Winterthur: Dort vermittelt die Koordinationsstelle für Arbeitsprojekte Lehrabgängern Praktikumsplätze. 160 Einsätze kamen in den letzten drei Jahren zustande – ein Resultat, das sich sehen lassen kann. Ganz ohne regulierende Anreize, in Arbeitgeberkreisen ansonsten verpönt, liess sich das allerdings nicht bewerkstelligen: Die Stellenanbieter müssen nur einen Viertel der anfallenden Lohnkosten übernehmen.

Peter Hasler, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, bestreitet nicht, dass die momentane Wirtschaftslage «zweifellos schwierig» für die Jugendlichen ist. Aber die Verantwortung liege nicht allein bei der Wirtschaft, sondern auch bei der Politik und der Gesellschaft. «Wir dürfen einander nicht den schwarzen Peter zuspielen. Schliesslich kann man Firmen nicht zwingen, Arbeitsplätze zu schaffen.»

Es bleibe ihm nichts anderes übrig, als weiterhin an die Unternehmen zu appellieren, nicht nur kurzfristig zu planen. «Der Wirtschaftsaufschwung kommt noch dieses Jahr. Die Jungen müssen nur noch bis Herbst durchhalten», so Hasler. Und wie? Die Jugendlichen müssten sich vorübergehend Stellen teilen, Weiterbildungen besuchen und «sehr flexibel» sein.

Haslers Rezept klingt gar einfach, denn im Schwarzpeterspiel zwischen Wirtschaft, Politik und Jugendlichen sitzen Letztere am kürzesten Hebel: Sie haben keine Lobby. Das soll sich aber noch dieses Jahr ändern. Am 18. Mai, dem ersten Jahrestag der Lehrstelleninitiative, wird sich der vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund gegründete Verein Jugend mit Arbeit und Bildung (JAB) zu Wort melden. Der JAB wird politische Vorstösse lancieren, aktive Öffentlichkeitsarbeit betreiben und Aktionen vorbereiten. Ziel ist, dass sich nebst Politikerlippen mit ihren Bekenntnissen zum Prinzip Hoffnung und Aufschwung konkret etwas bewegt in Sachen Jugend in der Wirtschaft.

Brückenangebote für stellenlose Jugendliche im Internet