Duri Vetsch wuchtet seinen schweren Koffer mitten in den ländlichen Thurgau. Auf eine saftgrüne Wiese, zwischen zirpende Grillen und bimmelnde Kühe. An den Bäumen baumeln kleine Äpfel wie Christbaumkugeln. «Plopp», macht der Koffer beim Öffnen, Bescherung: ein halbes Dutzend Äxte. «Schön, oder?», fragt der 37-Jährige. 

Ich bin mir nicht sicher. Als ich zehn war, schlug sich mein Vater ein «Bieli» in den Daumen. Dann stürchelte er vom Keller in die Stube und tropfte den Teppich voll mit Blut. An den Rest der Geschichte erinnere ich mich kaum. Der Daumen blieb dran, seither sind mir Äxte aber suspekt.

Mit meinem Misstrauen bin ich nicht allein. Am Nachmittag klingelte Duri Vetsch beim Bauern, dem das Land gehört. «Guten Tag, ich bin Axtwerfer.» – «Aha?» – «Ich würde meine Zielscheiben gern auf Ihre Wiese stellen. Da hinten, wo ich niemanden störe.» – «Was?» – «Zum Üben.» – «Hä? Aber wieso?» Kommt ein Fremder und wirft mit Äxten um sich. Wie in einem schlechten Horrorfilm. 

«Da passiert nichts.»

Duri Vetsch weiss, was die Leute denken. Er kennt seine Zeilen. «Ja, Axtwerfen ist ein Sport. Nein, da passiert nichts.» Das Lächeln hilft. Ruhige Stimme, sympathischer Dialekt. Der Bauer nickt.

Vetsch wuchs im Bergell auf und machte eine Lehre als Metallbauer. Nach dem Militär wurde er – «typisch Bündner» – Skilehrer in Maloja. Im Sommer arbeitete er immer da, wo man ihn brauchte. Als Metallbauer, im Strassenbau, als Tellerwäscher. Mit 24 hängte er die Saisonjobs an den Nagel und wurde Hauswart in einer Jugendherberge. Für sieben Jahre, dann zog es ihn «abe» ins Unterland. Nach Amriswil TG, wo er seither Materialwart bei der Feuerwehr ist. «In meinem Leben reihte sich eins ans andere. In die besten Dinge stolperte ich rein zufällig.» 

So auch ins Axtwerfen. 2014 war das, beim «Bröötle» im Wald. «Ich war mit meinem Hund unterwegs und habe aus Langeweile mein ‹Bieli› gegen einen Baum geworfen. Es blieb stecken, und ich dachte: ‹Boah!›» Aber Moment: Wer führt denn eine Axt zum Spazieren aus? Duri Vetsch lacht. «‹Bieli› haben mich schon als Kind fasziniert. Natürlich habe ich nie eins bekommen – bis ich es selbst kaufen konnte.» Zum Holzhacken, nicht für Würfe. Aber wieso eigentlich nicht?

Täglich üben, stundenlang

Zurück am Laptop, fand er zwei Zürcher im selben Alter. Sie erzählten ihm von anderen Angefressenen. Von Treffen und Turnieren. Von einer neuen Welt, die es zu erkunden galt. Von da an übte Vetsch täglich. Stundenlang und «bis zum Versauern». 

Plötzlich halte auch ich eine Axt in der schwitzigen Hand. Weil ich nervös bin, lasse ich Vetsch den Vortritt. Der zückt eine Sprühflasche und sprenkelt erst mal Wasser aufs Ziel. Trockenes Holz wird spröde, sprödes Holz ist brüchig: «Ich will ja nicht ständig neue Scheiben schustern.» Odin, sein Nova Scotia Duck Tolling Retriever («Soll ich buchstabieren?»), trottet unbeeindruckt unter einen Apfelbaum. Vetsch stellt sich hinter eine unsichtbare Linie im Gras. Die Schuhspitzen auf derselben Höhe, die Knöchel in verschiedenen Socken. Das Kinn gesenkt, die Augen verengt – Konzentration. Ein, zwei, drei Sekunden, dann schiesst der Arm nach unten, zack über die Schulter, mit Schub nach vorn.

«Tock», tönt es bei der Landung. Der Stahl steckt im Holz, die Kante im Zentrum. Kein Vorführeffekt. «Tock», tönt es immer wieder, jeder Wurf ein Treffer. Meine erste Axt landet weit unter der Zielscheibe. Zumindest im Holz, gerade noch so. Der zweite Versuch schiesst übers Ziel hinaus. «Nicht schlecht für den Anfang», lügt Vetsch. «Es ist wie bei Pommes-Chips: Wer einmal anfängt, will gar nicht mehr aufhören.» Ich mag Chips.

Viele Pensionierte tun es

Wer «Axtwerfer» googelt, findet einen Haufen Wikinger. Duri Vetsch erfüllt das Klischee, mit seinem rötlich braunen Bart und den breiten Schultern. Als Outdoor-Freak, der gern rennt und klettert. Der ein Zelt auf dem Dach seines Autos hat. An Wettkämpfen trifft er aber nicht auf Doppelgänger. «Die Truppe ist bunt gemischt. Frauen und Männer, Teenager und Rentnerinnen. Mich hat überrascht, wie viele pensioniert sind.» Fürs Axtwerfen brauche es weder Kraft noch Testosteron, sondern «Gspüri». Man müsse genau arbeiten und Bewegungen perfektionieren. 

Menschen haben Beile geworfen, seit es Beile gibt. In der Neusteinzeit zur Jagd, in der Antike im Krieg. Vor 200 Jahren entwickelte sich aus der Kriegskunst ein Sport. Kanadische und skandinavische Holzfäller massen ihre Kräfte. Eine Weile geriet der Sport in Vergessenheit, vor einem Jahrzehnt erfuhr er in kanadischen Grossstädten ein Revival. Dann schwappte er in die USA und von da aus über den Atlantik. 

In der Schweiz ist Axtwerfen mehr Hobby als Sport. Die Gemeinschaft ist klein, aber gut verknüpft. 2016 organisierte Vetsch seine erste Meisterschaft in St. Moritz. Rund 40 Leute reisten an. Aus allen Ecken der Schweiz, aus den USA, Grossbritannien und Polen. Die Teilnehmenden warfen aus verschiedenen Distanzen auf drei Zielscheiben. «Aus sieben Metern braucht es mehr Kraft, aus drei Metern mehr Drall. Aus grosser Entfernung schaffe ich zwei Axtumdrehungen, aus kurzer eine», erklärt Vetsch, der sein eigenes Turnier gewann. «Ich sehe schon die Schlagzeile: ‹Beobachter deckt auf: Axtwerfer manipuliert Wettkampf›.»

St. Moritz gab den Startschuss für weitere Meisterschaften. Vetsch reiste nach England, Italien, Ungarn, Tschechien. Das klinge zwar gut, müsse aber relativiert werden: «Alle sind willkommen. Unter den 150 Teilnehmenden waren solche, die erst ein paar Wochen Erfahrung hatten.» Zu gewinnen gibt es wenig. Eine Medaille in Italien, da sei man verrückt danach. Vielleicht mal einen Präsentkorb, meist aber bloss Ruhm und Ehre. Die Weltmeisterschaft in den USA, ein teures Unterfangen, blieb bisher ein Traum. 

Bitte nicht mit Alkohol mischen

Vom amerikanischen Unternehmergeist hat sich der Bündner aber schon inspirieren lassen. Vor einem Jahr gründete er seine eigene Firma Ibäx (aus «Äxte» und «ibex», lateinisch für «Steinbock»). Seither reist er abends und an Wochenenden durch die Schweiz. Mit Zielscheiben und Äxten. An Geburtstage, Teamevents, zu Junggesellinnenabschieden. «Aber nur wenn ich der erste Programmpunkt bin – Alkohol und Äxte vertragen sich nicht.» Ein Grund für den Event-Erfolg: die schnellen Fortschritte. «Nach ein paar Würfen sind jeweils alle drin.» 

Auch ich? Ja, ich treffe immer besser. Erst die äusseren Kreise, dann die inneren Kringel. «Tock», macht die Axt beim Aufprall, «Yes!», jubelt es hinter mir. Vetsch ist ein euphorischer Cheerleader. Als der Sonnenuntergang den Himmel verkitscht, rollt ein Auto über den Landweg. Zwei Köpfe spähen aus einem offenen Fenster. «Was tun Sie da?», ruft eine Frau, und Duri Vetsch steht schon bereit. Er kennt seine Zeilen. Ja, Axtwerfen ist ein Sport. Nein, da passiert nichts. 

Bald steigen die beiden aus dem Auto. Ich reiche mein Werkzeug weiter und warte aufs nächste «Tock».

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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