Ein bisschen Selbstüberlistung muss sein. Ich ziehe mir das gelbe Trikot über, das bei der Tour de France jeweils der Führende der Gesamtwertung trägt. Es darf wohl erlaubt sein, eine Prise des Hochgefühls von den Radprofis zu stibitzen. Vor allem wenn man sich vom Beobachter dazu hat überreden lassen, mit dem Rennrad die Pässe Grimsel, Furka und Susten in Angriff zu nehmen.

Vor rund zehn Jahren bin ich die Strecke schon einmal gefahren. Damals, als Teenager, trug mich aber meine schiere pubertäre Sturheit mindestens über die ersten zwei Pässe. Mindestens. Nur einfach weitermachen, an die Grenze gehen, sich selbst kennenlernen. Das war mir damals Motivation genug, meinen Körper aufs äusserste zu quälen.

Und heute? Der Dickschädel hat die Pubertät zwar überlebt – doch ich bin mittlerweile freundlicher zu mir selbst. Der Jugendbonus ist der Genussfreude einer Mittzwanzigerin gewichen. Der Vorschlag der Redaktion stürzte mich deshalb in zähe Zweifel. Doch dann gewann der Ehrgeiz – ich will mir beweisen, dass mein Körper noch immer zu solch einer Leistung fähig ist.

In den vergangenen Wochen wurde also das Velo zu meinem ständigen Begleiter, auf dem Arbeitsweg, am Wochenende. Bis ich mich bereit fühlte. So liegen nun 3875 Höhenmeter vor mir, quasi eine der Königstouren der Schweizer Alpenpässe, der Klassiker für viele Radfahrer – ein Feuerwerk der Serpentinen und majestätischen Ausblicke.

Die Silbertour des Alpenbrevets.

Quelle: Gerry Nitsch

Der Selbstversuch im Video

Der Körper kommt nicht in Schwung

Doch die Ernüchterung kommt bald. «So habe ich mir das nicht vorgestellt», denke ich schon kurz nach dem Startort Meiringen im Berner Oberland. Zusammen mit einer Kollegin, meinem Bruder und meinem Vater kämpfe ich mich bergauf zum Grimselpass, in gemächlichem Tempo, denn es gilt, 132 Kilometer durchzuhalten.

Trotz Bummeltempo will mein Körper nicht in Schwung kommen, die Beine wiegen schwer, die Augen brennen vor Müdigkeit. Meine Trägheit rührt von der vorangehenden Nacht: Gefühlte zwei Stunden habe ich geschlafen. In meiner Traumwelt wölbten sich Pässe unendlich in den Himmel, und der Sattel meines Rennvelos drückte sich unbarmherzig in den Hintern. «So schnell wird ein sorgfältiges Training zunichtegemacht», denke ich und bin ziemlich muff.

Der Aufstieg ist ein Kampf.

Quelle: Gerry Nitsch

Das sagt der Experte

«Der Körper braucht bei Schlafmangel deutlich länger, bis er auf die passende ‹Betriebstemperatur› kommt. Durch die Müdigkeit wird auch die kognitive Leistung eingeschränkt: Man erlebt quasi einen mentalen Kater. Diese Schlappheit kann aber durch Bewegung und Anstrengung überwunden werden. Die zyklischen Tretbewegungen und ein gemässigtes Warm-up-Tempo helfen dabei.»

Hanspeter Gubelmann,  Trainer Spitzensport Swiss Olympic und Sportpsychologe

«Mich überfällt der Brechreiz»

Allmählich kann ich mich auf mein Projekt einlassen. Und beginne zu realisieren, wie atemberaubend die Landschaft um mich herum ist: Hie und da entdecke ich Abschnitte des alten Saumpfads, der den Römern vor Urzeiten dazu diente, vom Süden her Wein und Reis über die Alpen zu transportieren. Nun surren die Räder still vor sich hin, wir haben unseren Rhythmus gefunden.

Nach knapp drei Stunden erreichen wir die Grimselpasshöhe auf 2164 Metern über Meer. «Die erste und längste Steigung ist geschafft», reden wir uns ermutigend zu. Ein Handschlag, ein Juchzer – und dann stürzen wir uns gierig auf unser Picknick. Ein Fehler, wie sich bei mir herausstellt. Nach dem Credo «Iss, wonach dich gelüstet, Energie-Gels sind etwas für Profis» stopfe ich Brot, Käse und Trockenfleisch in mich hinein. Mein Körper schreit nach Salz, also gebe ich es ihm. Doch dann die Retourkutsche: Ein übler Bauchkrampf überfällt mich. Schmerzen überall, Gänsehaut, der Brechreiz zwingt mich dazu, ein stilles Örtchen zu suchen.

Eine Tour ohne Pannen? Fehlanzeige.

Quelle: Gerry Nitsch

Das sagt der Experte

«Trockenfleisch und Käse sind Ballast für den ausdauergestressten Magen. Vermutlich wusste der Körper nicht mehr, ob er seine Energie nun in die Verdauung oder in die Leistung stecken soll. Leichtverdauliche Produkte sind deshalb sinnvoller. Die richtige Flüssigkeitszufuhr – rund ein Liter pro Stunde – ist jedoch das erste Gebot bei einer Langzeitleistung. Wer zu wenig trinkt, kann bis zu 20 Prozent seiner Leistung einbüssen.»

Hanspeter Gubelmann,  Trainer Spitzensport Swiss Olympic und Sportpsychologe

«Die Krise holt mich ein»

Entschlossen setze ich mich kurze Zeit später wieder aufs Rad. Die sechs Serpentinen, die wir anschliessend hinuntersausen, lassen den Schmerz etwas vergessen. Doch schon beim nächsten Anstieg am Furkapass holt mich die Krise wieder ein. Und nun so richtig. Anfänglich verläuft die Strasse parallel zum Bahntrassee der Furka-Oberalp-Bahn, die seit 1926 Touristen aus aller Welt anzieht. 

Früher kamen die Gäste, um den Rhonegletscher zu bestaunen, heute ist er kaum noch zu sehen. Dafür sehen wir beinahe den höchsten Punkt der Passstrasse, während wir zuunterst die kleine historische Siedlung Gletsch passieren. Der Blick nach oben ist ein mentaler Tiefschlag. Und je näher wir uns zu den Serpentinen hin bewegen, desto höher erscheint mir der Pass. Der Bauch krampft, die Müdigkeit bringt mich einmal gefährlich nah an den Strassenrand. Der Berg nervt, die klebrigen Hände nerven, doch Radhandschuhe würden auch nerven, der Rücken schmerzt. Schon wieder bin ich muff.

Es gilt 3875 Höhenmeter zu bewältigen.

Quelle: Gerry Nitsch

Das sagt der Experte

«Auf einer solch langen Strecke kommen die negativen Gedanken mit Sicherheit. Wer gedanklich jedoch an den Schmerzen hängenbleibt, verstärkt diese nur. Besser ist es, seine Gedanken gegen aussen zu richten, sich beispielsweise Etappenziele zu setzen. So hat man viele kleine Erfolgserlebnisse, die einem mentale Power bis ins Ziel geben.»

Hanspeter Gubelmann,  Trainer Spitzensport Swiss Olympic und Sportpsychologe

Der Atem kommt stossweise

Bisher habe ich darauf geachtet, dass mein Puls 165 Schläge pro Minute nicht übersteigt. Wenn er höher ist, drohen die Muskeln zu übersäuern. Nun klettert er auf 173, während wir uns dem höchstgelegenen Punkt der Tour nähern.

Ich trete, mit mir selbst beschäftigt, in die Pedale, der Atem kommt stossweise, klare Gedanken sind nicht mehr möglich. Langsam versinke ich in Trance, spüre keine Schmerzen, realisiere aber auch nicht, dass die Landschaft schon wieder Unglaubliches zu bieten hätte.

Endlich erscheint das langersehnte Schild «Furkapass». Während wir uns fürs Gruppenfoto versammeln und uns ein müdes Lächeln abmühen, fährt eines der Highlights unserer Tour herbei: ein Reisecar, der plötzlich eine Schar schnatternder Japaner aus seinem Bauch entlässt. Ehe wir uns versehen, lächeln wir nicht in eine, sondern in 15 Kameras. Die Vorstellung, womöglich bald als verschwitzte Exoten in einer japanischen Stube zu hängen, beflügelt mich nach dieser Phase des Durchbeissens auf erstaunliche Weise.

Touristen posieren mit den Fahrradfahrern.

Quelle: Gerry Nitsch
«Meine Seele jubelt»

Zügig rollen wir nun das Urserental hinunter, passieren Andermatt und biegen schliesslich in Wassen nach links in die Sustenstrasse. Diese gigantische Passstrasse – sie ist 45 Kilometer lang – ist zu Recht eine der liebsten vieler Radfahrer. In einer angenehmen Steigung führt sie uns durch das Meiental, gesäumt von kleinen Weilern und heimelig aussehenden Bauernhäusern. Die Gräser wiegen sanft im Wind, irgendwo ruft ein Bauer, worauf ein ganzes Orchester von Schafen zu blöken beginnt. Hier scheint die Welt noch in Ordnung. 

Zuversichtlich strampeln wir weiter und weiter. Ich finde nun sogar die Kraft, etwas zu beschleunigen. Meine Seele jubelt, mein Herz zerspringt beinahe vor Freude, ich bin zufrieden mit mir und der Welt.

Das sagt der Experte

Gegen Ende einer Leistung fallen die Faktoren Training, Gesundheit, Tempo und Flüssigkeitszufuhr immer mehr ins Gewicht. Wenn diese Voraussetzungen stimmen, gerät der Sportler in ein Hochgefühl, möglicherweise mit einem Flow-ähnlichen Erleben: Das Rad rollt fast von selbst, der Kopf hört auf zu denken. Der Hormoncocktail, gepaart mit dem Wissen, dass man das gesteckte Ziel erreichen wird, führt zu einem unvergesslichen Glückserlebnis.»

Hanspeter Gubelmann,  Trainer Spitzensport Swiss Olympic und Sportpsychologe

Die Abfahrt als Dessert

Nur noch ein paar Haarnadelkurven – und alles ist vorbei. Ich ziehe ein letztes Mal gierig am Getränkebidon (viereinhalb Liter Flüssigkeit habe ich mittlerweile in mich geschüttet und 5000 Kalorien verbraucht). Schon durchqueren wir den Tunnel, der die Sustenpasshöhe signalisiert. Geschafft!

Nun wartet als Dessert noch eine ellenlange Abfahrt durch eine parkähnliche Landschaft auf uns. Doch schon hier oben, mit Blick auf die Oberländer Alpen, weiss ich: Trotz all dem Leiden und Fluchen – das Durchhalten hat sich gelohnt. 

Und so strahlt das gelbe Trikot mit mir in der Abendsonne um die Wette.

Zum Schluss die Crème de la Crème: die Abfahrt.

Quelle: Gerry Nitsch

Das Alpenbrevet

Immer im August findet das Alpenbrevet statt, der grösste Schweizer Amateuranlass des Radsports. Bei der Silbertour werden die oben beschriebenen drei Pässe überquert. Bei der Goldtour werden vier, bei der Platintour fünf Pässe bewältigt.

www.alpenbrevet.ch