Wolfgang Kuglers grosse Leidenschaft sind Kunst und Kultur. Er liebt das Politisieren, das Musizieren und das Schreiben. Und er macht diesen Sommer seine Lehrabschlussprüfung als Sanitär. Kugler ist mit seinen 56 Jahren wohl der älteste Lehrling der Schweiz.

Kuglers Berufswahl scheint angesichts seiner Person ein Widerspruch – war jedoch ein sehr rationaler Entscheid. Der zweifache Vater träumte zwar von einer Karriere als Musiker oder Schriftsteller. «Realistisch gesehen, war es allerdings nicht möglich, damit genug Geld zu verdienen», sagt er. Der Wiener, der seine Erstausbildung als Verlagskaufmann machte und später als Journalist arbeitete, zog der Liebe wegen vor zehn Jahren in die Schweiz. Mit seiner Ausbildung aus den Siebzigern fand der damals 46-Jährige keine Anstellung. Sein satirischer Bildband im eigenen Verlag verkaufte sich nur harzig, deshalb beschloss er, eine Lehre zu machen. Eigentlich hätte er lieber Landschaftsgärtner oder Goldschmied gelernt. Doch das sind in der Schweiz keine Mangelberufe. So entschied er sich nach eingehender Prüfung des hiesigen Arbeitsmarkts für die Sanitärlehre.

Bei den Aufnahmetests für die Ausbildung schnitt Kugler ausserordentlich gut ab. Viele hatten allerdings Bedenken, ob er in seinem Alter der körperlichen Arbeit auf der Baustelle gewachsen sein würde. Doch es kam anders: «Auf dem Bau funktioniere ich prima, mit der physischen Anstrengung komme ich klar. Hingegen habe ich in der Schule Schwierigkeiten mit dem dreidimensionalen Arbeiten.» Den Spruch «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» lässt Kugler trotzdem nicht gelten: «Hans lernt nur anders als Hänschen. Mein Hirn etwa baut auf bereits Vorhandenem auf, was manchmal etwas länger dauert.»

Auf der Baustelle hat Kugler kein Problem, Anweisungen eines 19-Jährigen entgegenzunehmen. Die jungen Kollegen begegnen ihm mit Respekt, nutzen sein Alter auch mal zu ihrem Vorteil – «Wolfi, ich habe den Bus verpasst, kannst du mich im Auto mitnehmen?» – oder verdrehen die Augen, wenn er auf der Baustelle im Radio einen Klassiksender wählt. Kugler freut sich unterdessen auf den Lehrabschluss: «Die Ausbildungszeit ist hart, aber die Signalwirkung, die von meinem Abschluss ausgeht, ist mir die Mühe wert: Man kann etwas erreichen, wenn man nur will.»

Erst Jurist, dann Schreiner

Für Walter Lanz gibt es kein Entweder-oder. Und so hielt sich der heute 71-Jährige auch im Berufsleben an sein Credo des Sowohl-als-auch. Schon immer mochte er es, mit den Händen zu arbeiten. Etwas zu produzieren, bei dem er am Abend weiss, was er geleistet hat. Gleichzeitig wollte er seinen Kopf benutzen. «Hätte ich wählen können, ich wäre am Morgen ins Büro gegangen – und den Nachmittag hätte ich an der Hobelbank verbracht.» Somit fasste er bereits als Teenager einen Plan: Wenn nicht miteinander, dann halt nacheinander. Die erste Hälfte seines Arbeitslebens wollte er als Jurist arbeiten, die zweite als Schreiner.

Und so kam es auch. Nach Wirtschaftsstudium, Doktorpromotion und einer selbständigen Tätigkeit als Wirtschaftsjurist begann Walter Lanz mit 45 eine Lehre als Möbelschreiner. Sein Umfeld reagierte überrascht: «Die einen bewunderten meinen Mut. Andere waren irritiert, konnten nicht verstehen, wie ich meine erfolgreiche Karriere aufgeben konnte, um eine Lehre zu beginnen.» Lanz hatte keine Kinder und keine Verpflichtungen. Ausserdem sei Geld nicht sein einziger Lebensinhalt.

«Ohne das finanzielle Polster, das ich mir als Jurist erarbeitet hatte, wäre es aber schwierig geworden, nur vom Lehrlingslohn zu leben.» Und nicht nur finanziell sei er privilegiert gewesen. In der Lehre hätten die Kollegen es ihm leicht gemacht. Vom Lehrmeister und den 16-jährigen Kollegen wurde Lanz bestens akzeptiert. «Ich bin mir nicht sicher, ob ich in deren Alter so wohlwollend und tolerant mit einem alten Chlaus wie mir umgegangen wäre», sagt er lachend. Vor der Lehre fürchtete er nämlich, als Sonderling abgestempelt zu werden. Da er sich aber als «hundskommuner Stift ohne Privilegien» in der Schule und im Betrieb eingliederte, waren weder seine akademischen Titel noch sein Alter je ein Thema oder ein Hindernis.

Nach dem Lehrabschluss arbeitete Walter Lanz zehn Jahre im Beruf. Handwerker blieb er trotzdem nicht. Berufsbegleitend bildete er sich zum Sozialpädagogen aus und prägte den Begriff der Arbeitsagogik, einer Kombination aus Sozialpädagogik und Handwerk. «Sowohl-als-auch halt», sagt Lanz.

«Die dachten: ‹Was will die alte Schachtel bei uns?›»: Veronika Meyer, 48, angehende Podologin

Quelle: Matthias Willi
«Ich wusste gar nicht, wie man lernt»

«Die dachten: ‹Was will die alte Schachtel bei uns?›»: Veronika Meyer kommentiert schmunzelnd die Reaktion ihrer Mitschüler, als sie am ersten Schultag das Klassenzimmer betrat. Doch die Vorbehalte verschwanden schnell. Bald wurde Meyer von den Kameraden als Klassenmami wahrgenommen: «Die Jungen bitten mich auch mal um Rat bei Problemen mit dem Freund.» Von der Lebenserfahrung der dreifachen Mutter, die im zweiten Lehrjahr zur Podologin steht, profitieren nicht nur die Mitschüler. «In 48 Jahren bleibt schon einiges hängen. Bei gewissen Themen, grad wenns um Allgemeinwissen geht, merke ich: ‹Moll, das habe ich auch schon gehört› – und kann daran anknüpfen.»

Veronika Meyer spürt aber, dass sie einen grösseren Aufwand betreiben muss als ihre Klassenkameradinnen im Teenager-Alter: «Ich war so viele Jahre nicht an der Schule und wusste zunächst gar nicht mehr, wie man richtig lernt.» Während ihre Gspäändli in der Freizeit Hunderte von Aktivitäten unter einen Hut bringen, braucht sie mehr Zeit und Konzentration, um den Lernstoff zu bewältigen. Hinzu kommt, dass manche Ausbildner bei ihr automatisch ein breiteres Wissen voraussetzen als bei anderen. «Inhaltlich und fachlich bin ich aber trotz Lebenserfahrung ein Lehrling», wehrt sich Meyer.

Ihre allererste Stifti konnte Veronika Meyer vor über 30 Jahren nicht beginnen, da sie jung schwanger wurde. Sie tröstete sich damit, sie werde die Ausbildung irgendwann nachholen.

23 Jahre und diverse Nebenjobs später war es so weit. Veronika Meyer startete eine Lehre als Dentalassistentin, schaffte den Abschluss und arbeitete gut vier Jahre im Beruf. Doch ihr fehlte die Kommunikation mit den Patienten. Kurzerhand verlegte sie ihren Fokus von der Zahn- auf die Fusspflege und startete zum zweiten Mal eine Lehre. Dass sie in den letzten Jahren gleich doppelt Elan hatte, beruflich etwas Neues zu wagen, erstaunt Meyer selber. Ohne ihren Partner, der sie auch finanziell unterstützt, ginge es nicht, sagt sie. Und: «Ich habe früh gelernt, mit wenig Geld auszukommen.»

Im Lehrbetrieb meinen Kunden gelegentlich, sie hätten mit Veronika Meyer eine erfahrene Podologin vor sich. «Da man bei einer Lernenden weniger zahlen muss für die Behandlung, protestieren sie zuerst: ‹Sie sind ja gar kein Lehrling!› Ich sage dann, ich sei halt eine etwas ältere Lehrtochter, ob das auch okay sei.» Das war es bisher immer.

Lehre: Wann ist es zu spät?

Von den über 230000 Menschen in einer beruflichen Grundausbildung waren im Schuljahr 2011 /2012 nur gut 2 Prozent über 30 Jahre alt. Marco Graf vom Laufbahnzentrum Zürich rät denn auch keinem über 40-Jährigen zu einer Lehre. Die Lebens- und Berufserfahrung eines «Ü 40» rechtfertige nur in Ausnahmefällen das tiefe Einkommen während der mehrjährigen Ausbildung. «Wenn man auf einem Gebiet Arbeitserfahrung hat, kann man sich über eine Berufsschule die Theorie aneignen und auf diese Weise zum Lehrabschluss gelangen.» Dank Validierungsverfahren lassen sich bereits gemachte Arbeitserfahrungen anrechnen.

«Grundsätzlich ist ein älterer Lehrling allerdings ein Gewinn für jeden Betrieb», sagt Graf. Zu einem günstigen Lohn werde meist sehr gute Arbeit geleistet, da die Erwachsenen genau wissen, was arbeiten heisst. Diese Arbeitserfahrung könne aber auch zur Herausforderung für alle Beteiligten werden, da sie sich im Betrieb nicht im Status des Lehrlings widerspiegelt.