Jedes Mal die gleiche Frage: «Aber Sie nennen meinen Namen nirgends, oder?» Die Angst, den Job zu verlieren, sitzt tief bei den Lehrinnen und Lehrern an der Juventus-Schule 
für Medizin in Zürich. Trotzdem erzählen sie ihre Geschichte.

Vor zwei Jahren hat die Wandlung der Juventus zur vermeintlichen Vorreiterin der Digitalisierung begonnen. Besser, schneller, digitaler sollte die Juventus werden. Treibende Kraft dahinter war Rektor Richard Münger. 
Dass er damit einige Lehrer vergraulte, interessiert ihn nur wenig. «80 Prozent der Lehrpersonen sind nach wie vor aktiv», sagt er.

995 Jugendliche lassen sich an der Schule zur Tiermedizinischen Praxisassistentin oder zum Medizinischen Praxisassistenten ausbilden. Die Juventus Vorbereitungskurse für Berufsmatura «Juventus» fällt durch ist zwar eine Privatschule, hat aber einen öffentlichen Auftrag. Das Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamt zahlt jährlich Beiträge von 5,6 Millionen Franken. Vorerst bis 2021.

«Die Digitalisierung steht bei allen Schulen weit oben. Aber die wenigsten wissen, wie sie sie umsetzen sollen», sagt Münger. Diesen Fehler will er nicht machen. Er entwickelte deshalb neue Lehrmittel und neue Prüfungen.

Prüfung auf Knopfdruck

Seit diesem Schuljahr werden für Neueintretende alle Prüfungen rein digital durchgeführt – mit dem Programm Open Olat. Dieses mussten die Lehrer manuell mit Fragen füttern. Es stellt dann auf Knopfdruck neue Prüfungen zusammen. Möglich sind Multiple-Choice-Fragen, Lückentexte oder Zuordnungsfragen. Offene Fragen mit frei zu formulierenden Antworten gibt es nicht. Das System kann sie nicht korrigieren. 

Nicht nur das sorgt für Kritik. Schrittweise soll der ganze Unterricht digitalisiert Digitalisierung Hightech macht Schule werden. Davor warnt die Zürcher Lernforscherin Elsbeth Stern: «Man nimmt Information anders auf, wenn man in einem Text blättern und flexibler hin- und herspringen kann.» Nicht mehr von Hand zu schreiben, sei ein Fehler. Man ignoriere die Körperlichkeit des Schreibens. «Das führt zu mehr oberflächlicher Beschäftigung mit den Inhalten, dadurch entstehen grosse Lücken im Wissen und bei den Kompetenzen», so die ETH-Professorin.
 

«Nicht mehr von Hand zu schreiben, führt zu Oberflächlichkeit und Wissenslücken.»

Elsbeth Stern, 
ETH-Lernforscherin


Ein Teil der Juventus-Lehrpersonen sieht das auch so. Schülerinnen und Schüler entwickelten weniger Verständnis für Zusammenhänge, lernten einfach auswendig oder vertrauten bei Prüfungen auf das Prinzip Raten. «Sie haben vielleicht bessere Noten, sind aber weniger gut ausgebildet», sagt ein Lehrer. An den Antworten auf offene Fragen könne man besser erkennen, ob die Materie verstanden wird.

«Multiple-Choice-Prüfungen können sehr hilfreich sein, wenn man evaluieren will, wo die Schüler stehen», bestätigt Heinz Schlegel, Rektor der Baugewerblichen Berufsschule Zürich BBZ. «Aber es braucht auch immer noch das andere.» An seiner Schule werden die meisten Prüfungen deshalb analog durchgeführt, im Unterricht setze man aber immer mehr auf elektronische Lehrmittel und Übungsaufgaben. «Wie stark digitale Vermittlungsformen in den Unterricht eingebaut werden, hängt immer von der Lehrperson ab», sagt Schlegel. «Eine gute Multiple-Choice- Frage zum Beispiel bedeutet viel Arbeit. Man braucht bis zu einer Stunde pro Frage.» Die BBZ-Lehrer könnten deshalb die zusätzliche Arbeit über Entlastungsstunden kompensieren.

Nicht so an der Juventus. Die Prüfungsfragen mussten die Lehrer in ihrer Freizeit erstellen – ohne Bezahlung. Der Mehraufwand werde «mehrfach mit der Abschaffung der Korrekturarbeiten entschädigt», sagt Münger.

13 Kündigungen, 48 Jugendliche in einem Unterrichtsraum

Viele Lehrpersonen liessen sich das nicht gefallen und sind gegangen. «Gute Leute, die jahrzehntelang an der Juventus unterrichteten, verliessen die Schule, weil sie nicht hinter Müngers Zwangsdigitalisierung stehen konnten», sagt eine Lehrerin. 13 von 110 Lehrerinnen und Lehrern haben die Privatschule inzwischen verlassen.

Der Schulbetrieb leidet unter den Abgängen. Die Schüler bekamen es zu spüren. «Lektionen fielen aus, Klassen wurden zusammengelegt. Einmal wurden 48 Jugendliche in einem Raum unterrichtet», erzählt eine ehemalige Schülerin. «Alles war sehr schlecht 
organisiert. Die Lehrer wussten nicht mal, wie die Abschlussprüfungen aussehen», sagt ein anderer.

Juventus hält auf Anfrage fest, dass der Schulbetrieb nicht leide. Lektionen fielen «nur in sehr seltenen Fällen» aus. Überdies sei es üblich, Klassen zusammenzulegen, wenn der Bestand von zwei Klassen unter 24 Lernende falle.

Die Erfolgsquote bei den Prüfungen zeigt allerdings ein durchzogenes Bild. Letzten Sommer rasselten bei der Abschlussprüfung mehr als 13 Prozent durch, so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Trotz der Kritik und der schlechten Prüfungsergebnisse wird der Kanton Zürich die Leistungsvereinbarung 2021 wohl verlängern müssen. Denn die Juventus ist die einzige Schule im Kanton, die medizinische Praxisassistentinnen ausbildet.

52 Lehrmittel «voller inhaltlicher und grammatikalischer Fehler»

Wenn es nach Rektor Münger geht, sollen künftig alle Lehrmittel im eigenen Haus hergestellt werden. Wer will, kann sich bei 
der Schulleitung melden, muss sein Buch jedoch vorfinanzieren. Geschrieben wird in der Freizeit. Die 
Juventus gibt nur eine Abnahmegarantie.

Inzwischen sind auf diese Weise 
52 Lehrmittel entstanden. 10'000 Seiten wurden gedruckt und an die Schüler verkauft. Die Qualität ist umstritten. «Die Bücher sind voller inhaltlicher und grammatikalischer Fehler», kritisiert ein Lehrer. Ein Vorwurf, den die Juventus in dieser Deutlichkeit zurückweist, auch wenn sie einräumt, Druckfehler könnten «auch beim mehrfachen Überarbeiten durchrutschen». Grund: Die Lehrmittel entstanden unter enormem Zeitdruck, mussten Anfang Schuljahr fertig sein. Fehler will die Juventus nun mit Hilfe eines Meldungstools korrigieren. Doch die Verantwortung liege letztlich «bei den Autoren, die diese auch wahrgenommen haben», heisst es.

Münger ist kein Neuling im E-Learning-Business. Von 2010 bis 2013 war er Partner des Verlags Münger&Bänziger, der sich auf die Entwicklung elektronischer Lehrmittel spezialisiert hatte. Der Erfolg blieb aus. Der Verlag machte 2013 dicht. Fast gleichzeitig eröffnete er die Einzelfirma Elern Münger. Ihr Zweck: «Beratung und Entwicklung von E-Learning-Produkten und -Service». Die Firma wurde ein Jahr später gelöscht.
 

«Wie kommuniziert wurde und die Art, wie alles durchgesetzt wurde, hat für schlechte Stimmung im Lehrerzimmer gesorgt.»

Eine Lehrerin der Juventus-Schule


Ob die Juventus die Durchfallquote ihrer Schülerinnen und Schüler senken kann, ist fraglich. Denn die Abschlussprüfungen werden nicht durch die Juventus selber, sondern durch die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) erstellt. Sie enthalten Multiple-Choice-, aber auch offene Fragen. Lehrer befürchten deshalb, dass Schülerinnen und Schüler massenweise durchfallen werden. Die Schulleitung sieht es anders: «Im Unterricht stehen offene Aufgaben sehr wohl im Zentrum. Digitale Aufgaben sollen immer als Ergänzung zum analogen Lernen verstanden werden.»

Einige Lehrpersonen begrüssen den Innovationsschritt der Juventus. Aber: «Wie kommuniziert wurde und die Art, wie alles durchgesetzt wurde, hat für schlechte Stimmung im Lehrerzimmer gesorgt», sagt eine Lehrerin.

Kurz vor Redaktionsschluss kündigte Richard Münger in einem internen Mail überraschend an, er werde die Juventus auf Ende Schuljahr verlassen. Er wolle sich «eigenen Projekten widmen». Eine Nachfolge sei noch nicht gefunden.

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Martin Vetterli, stv. Chefredaktor
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