«Wisst ihr noch, was Adjektive sind?», fragt Lehrerin Monica Neff ihre Zweitklässler. Hände schiessen in die Höhe: Etwas ist schön. Gross. Schnell. Eine ganz normale Schulstunde.

Nur sitzen die Schülerinnen und Schüler des Meierhof-Schulhauses in Baden AG nicht im Schulzimmer. Sie stehen auf dem Pausenplatz. Vor ihnen liegen vier Quadrate aus Bambusstecken. Ins erste Quadrat sollen sie runde Dinge legen, ins zweite weiche, ins dritte spitzige und ins letzte alle anderen Dinge, erklärt Monica Neff. Manche Kinder treten von einem Fuss auf den anderen oder zupfen an ihren Kleidern. Andere machen allerlei Verrenkungen, alle sind mucksmäuschenstill.

«Jetzt dürft ihr solche Dinge suchen.» Sofort schwärmen die Kinder aus. Wenig später schleppen sie Unmengen Material an: Steine, Blumen, Stecken, Rinde, Grasschnitt, Laub. «Findest du, das ist spitzig?», fragt ein Schüler einen anderen. «Das ist aber gar nicht rund, sondern weich», sagt ein Mädchen. Und es zeigt auf die Löwenzahnblüte, die im «Rund»-Quadrat liegt.

Wissen nebenbei erwerben

Deutsch mit einem Schuss Mathematik, viel Bewegung und sinnliche Erfahrungen: Die Kinder profitieren an diesem Vormittag gleich mehrfach – ohne es zu merken. Glaubt man Studien, lernen sie bei dieser Form des Unterrichts besser und nachhaltiger, als wenn sie Adjektive an eine Wandtafel gekritzelt hätten.

«Erfahrungen, die alle Sinne ansprechen, aktivieren eine Vielzahl von Hirnregionen und tragen dazu bei, dass diese sich verknüpfen», sagt Rolf Jucker. Der Geschäftsleiter der Stiftung Silviva, einer Organisation für Umweltbildung, hat eine Vision: In der Schweiz sollen dereinst möglichst viele Schülerinnen und Schüler an einem Tag pro Woche draussen lernen.

Dinge anfassen, riechen, schmecken, hören – das geht grundsätzlich überall. Warum muss es ausgerechnet vor der Tür sein? Der Unterricht draussen habe noch viele weitere Vorteile, sagt Jucker. «Die Kinder bewegen sich mehr, und in Bewegung lernen sie die gleichen Inhalte besser. Das hat man getestet.» Zudem würden sie sich viel mehr untereinander und mit der Lehrperson austauschen und so quasi nebenbei Wissen und Wortschatz erweitern.

Zweijährige Testphase mit vier Schulen

«Drinnen übt man das Multiplizieren etwa mit farbigen Plastikchips. Draussen kann man Blätter von unterschiedlichen Bäumen nehmen. Sofort stellen die Kinder Fragen zu den Bäumen und erfahren Dinge, auf die sie während des Mathematikunterrichts im Schulzimmer gar nicht gekommen wären», sagt Jucker. Studien deuteten zudem darauf hin, dass sich die Beziehungen zwischen den Kindern und zur Lehrperson vertieften. Dies, weil man draussen mehr informelle Zeit miteinander verbringe – zum Beispiel auf dem Weg zum Wald. «Gleichzeitig weiss man, dass eine gute Beziehung zur Lehrperson der stärkste Faktor für Lernerfolg ist.»

Neu ist die Idee des Unterrichtens im Freien nicht. In Dänemark kennt man seit Jahrzehnten die «udeskole», die Draussenschule. Etwa jede fünfte dänische Schulklasse verbringt einen Tag pro Woche ausserhalb des Schulzimmers. Die Stiftung Silviva, die seit vielen Jahren Aus- und Weiterbildungen im Bereich Umweltbildung und Waldpädagogik anbietet, will der «udeskole» nun auch in der Schweiz zum Durchbruch verhelfen. Seit letztem Schuljahr begleitet sie vier Pilotschulen, die den Unterricht im Freien während zweier Jahre testen – wie das Schulhaus Meierhof.

Im Schnitt ist hier jede Klasse einen halben Tag pro Woche draussen, verteilt über mehrere Lektionen und Tage. «Die Lehrpersonen überlegen sich bei jeder Schulstunde, ob sie sich für den Draussenunterricht eignet. Je nach Schulstoff kann es auch sinnvoll sein, drinnen zu bleiben», sagt Schulleiterin Lisa Lehner. Mit dem Zirkel geometrische Formen zeichnen oder Diktate schreiben sei etwas fürs Schulzimmer.

Alle sechs Wochen verbringen die Kinder zusätzlich einen halben Tag mit einem Erlebnispädagogen im Wald . «Dort geht es weniger um konkrete Lerninhalte, sondern um Fähigkeiten wie Sozialkompetenz.»

Flexibilität ist gefragt

Monica Neff ist vom Konzept überzeugt: «Es ist am Anfang etwas anspruchsvoller, weil man gut planen und sich überlegen muss, was für Material man mitnehmen muss.» Auch verlaufen die Lektionen oft nicht wie geplant. «Es kann immer mal etwas dazwischenkommen, ein aus dem Nest gefallener Vogel oder ein Schmetterling Ausflugstipp Das «Tal der Schmetterlinge» im Wallis mit gebrochenem Flügel. Darauf muss man eingehen.» Die meisten Kinder seien draussen sehr motiviert und hätten besonders viel Spass am Lernen – das Wichtigste überhaupt. «Sie freuen sich, wenn ich sage: ‹Wir gehen nach draussen.›»

Vielleicht spüren die Kinder, wie gut ihnen die frische Luft tut. Schüler, die im Freien lernen, bauen das Stresshormon Cortisol im Lauf des Schultags normal ab, wie eine Studie gezeigt hat. Bei Kindern im Schulzimmer hingegen bleibt der Cortisol-Level dauerhaft hoch .
 

«Noch sind generell viele der Meinung, draussen werde nur gespielt, herumgerannt und nichts gelernt.»

Lisa Lehner, Schulleiterin


Es gibt aber auch Schülerinnen und Schüler, denen es im Klassenzimmer wohler ist. «Manche Kinder brauchen fürs Lernen eine klare Ordnung und Struktur», sagt Lehrerin Monica Neff. «Sie haben eher Mühe mit dem Unterricht draussen und sind froh, wenn wir wieder reingehen.»

Auch die Lehrpersonen sind vom Konzept nicht alle gleichermassen begeistert, sagt Schulleiterin Lisa Lehner. Manche hätten Bedenken, dass sie den Schulstoff nicht durchbringen. «Noch sind generell viele der Meinung, draussen werde nur gespielt, herumgerannt und nichts gelernt.»

Bei den Eltern sei die Angst, an der frischen Luft käme das Lernen zu kurz, kein Thema gewesen, sagt Lehner. Die Meierhof-Schule befindet sich in einem multikulturellen Quartier. Hier leben zahlreiche Familien mit Migrationshintergrund. «Viele Eltern machten sich Sorgen um die richtige Kleidung – einige Kinder waren noch nie in einem Wald.»

Alle müssen einverstanden sein

Hier hakt auch Beat A. Schwendimann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz ein: «Wir unterstützen es, wenn Schulen eigene Schwerpunkte setzen, und gegen das Konzept ist nichts einzuwenden. Man muss aber darauf achten, dass die Chancengerechtigkeit Schule «Die Angst ist gross, dass das Kind den Anschluss verliert» gewährleistet ist. Nicht alle Familien können sich eine Outdoor-Ausrüstung für jedes Wetter leisten», sagt er. Zudem sei die Gefahr grösser, dass sich die Kinder verletzen. «Wann immer man das Schulzimmer verlässt, braucht es zusätzliche Begleitpersonen, und die Eltern müssen wissen, dass ihr Kind auch mal mit einer Schramme nach Hause kommen kann.»

Zentral sei, dass die Idee von allen getragen werde: Lehrpersonen, Eltern und Schulleitung. Und natürlich sei der Lehrplan unter allen Umständen einzuhalten. Skeptisch ist Schwendimann, wenn es um die Erweiterung der Ausbildung geht. «Diese ist heute schon überfrachtet, es verträgt keine zusätzlichen Inhalte. Wir fordern schon lange, dass man die Grundausbildung für Primarlehrpersonen verlängert.»

Die Stiftung Silviva will den Draussenunterricht forcieren. Ab Herbst arbeitet sie mit sechs pädagogischen Hochschulen zusammen, die das Freiluftunterrichten versuchsweise in die Grundausbildung aufnehmen. Ausserdem hat die Stiftung ein Handbuch für die Primarstufe herausgegeben, mit Vorschlägen für Lektionen im Freien.

Lehrerin Monica Neff mit ihren Schülern auf dem Pausenplatz des Badener Meierhof-Schulhauses

Lehrerin Monica Neff hat die Lektion zum Thema Adjektive ins Freie verlegt.

Quelle: Esther Michel
Ausgebuchte Weiterbildungskurse

«Wir wollen den Lehrpersonen nichts Neues aufs Auge drücken, sondern sie unterstützen», sagt Silviva-Geschäftsleiter Rolf Jucker. Das Handbuch sei auf den Lehrplan 21 abgestimmt. «Die Lernziele werden umgesetzt, das war unsere oberste Priorität.» Bereits musste eine zweite Auflage gedruckt werden. Die Weiterbildungskurse zum Thema Draussenunterricht seien ebenfalls ausgebucht.

Auf dem Pausenplatz des Meierhof-Schulhauses haben die Kinder mit den Bambusstecken inzwischen ein schmales, langes Viereck gebildet und alle zuvor gesammelten Gegenstände hineingelegt. «Nun dürft ihr die Schuhe ausziehen und der Reihe nach barfuss darüberlaufen», sagt Monica Neff. Ratzfatz bilden die Kinder eine Schlange, und eins nach dem anderen tapst über den «Laufsteg». Sie spüren, wie sich Blätter, Hölzli, Halme an den Fusssohlen anfühlen – spitzig, weich, rund. Und wenn sie über einen der Steinbrocken steigen, die ausgelegt sind, rudert das eine oder andere mit den Armen, um die Balance zu halten.

«Das hat mir am besten gefallen heute», sagt ein Mädchen anschliessend. Die anderen stimmen zu. «Am besten aber gefällt mir, wenn wir frei spielen dürfen. Manchmal sogar Fussball», sagt ein Junge. Das bestätigt: Draussenschule ist genauso intensiv wie Drinnenschule. Warum sonst sollte man sich auf die Pause freuen?

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