Wer an einer Nationalstrasse wohnt, leidet oft unter massivem Lärm Lärmklage So wehren sich Anwohner gegen Autolärm . Der Bund ist deshalb als «Betreiber der Lärmquelle» verpflichtet, seine Bürger zu schützen. Doch das zuständige Bundesamt für Strassen Astra hat eine Möglichkeit gefunden, die Finanzen fressenden Lärmsanierungen abzuwenden. «Wirtschaftliche Tragbarkeit und Verhältnismässigkeit», kurz WTV, heisst das Zauberwort.

Dabei werden zu erwartende Baukosten – beispielsweise für eine Lärmschutzwand – durch die Anzahl betroffener Bürger geteilt. Übersteigt die Massnahme einen gewissen Index, kann das Astra die Lärmschutzmassnahme wegen Unverhältnismässigkeit abschmettern. Und zwar bevor Bauunternehmen Offerten abgeben können.

Berechnungsgrundlage divergiert mit Realität

Bei seinen Berechnungen setzt das Amt grundsätzlich 1700 Franken pro Quadratmeter Lärmschutzwand ein. Tatsächlich kostet aber kaum je ein Projekt soviel, wie Brancheninsider bestätigen. Sie rechnen mit durchschnittlich 750 bis 850 Franken pro Quadratmeter samt Fundament und Nebenkosten, also nicht einmal die Hälfte. Selbst Schallschutzwände aus Glas, die rund 30 Prozent teurer sind als herkömmliche Betonwände, kommen meist günstiger. So kam etwa der Schallschutz entlang der SBB-Durchmesserlinie Altstetten-Zürich HB-Oerlikon lediglich auf 888 Franken pro Quadratmeter zu stehen – dabei war jedes Element laut Baubeschrieb ein Unikat.

Man setze schweizweit dieselben Kostenansätze ein, um eine Ungleichbehandlung von Anwohnern zu verhindern, rechtfertigt das Astra die realitätsferne Berechnungsgrundlage.

Unterschiedliche Reglemente

Es geht noch dreister. Bereits bestehende Lärmschutzwände, etwa bei einer Aufstockung, lässt das Astra ebenfalls mit Phantasiebeträgen in die Wirtschaftlichkeitsberechnung einfliessen. Eigentlich müssten sie laut Reglement mit einem Abschreiber von rund 86.73 Franken pro Quadratmeter und Jahr erfasst werden. Im technischen Merkblatt 2100120106 figurieren sie aber pauschal mit einem Wiederbeschaffungswert von 1400 Franken.

Diese Verhinderungstaktik stösst SVP-Nationalrat Franz Grüter sauer auf. Anhand eines konkreten Falls hatte er letzten Herbst eine Motion eingereicht. Damals ging es um eine Lärmschutzwand entlang der Autobahn bei Eich/LU. Für eine Stecke von 450 Metern rechnete das Astra mit Kosten von 6,9 Millionen Franken und schmetterte das Projekt ab. Die Schätzung betrage ein Vielfaches der realen Kosten, hielt Nationalrat Grüter dagegen. Das zeige ein Kostenvoranschlag eines renommierten Bauunternehmens. Zudem seien unnötige Abbrüche berechnet worden. Und bestehenden Wände mit einem Wert mit eingeflossen, der doppelt so hoch ist, wie sie beim Neubau 2000 gekostet hatten.

Jürg Röthlisberger

Astra-Chef Jürg Röthlisberger

Quelle: ASTRA

Leidtragend sind neben der lärmgeplagten Bevölkerung auch die Bauunternehmen, denen die abgeschmetterten Projekte als Aufträge verloren gehen. «Das Problem ist, dass die Bauunternehmen auf Grossaufträge des Bundes angewiesen sind und sich deshalb nicht wehren», sagt Nationalrat Grüter. Soll heissen, sie wollen die Hand nicht beissen, die sie füttert.

Die Antwort des Bundesrates auf Grüters Motion: Die Kostenschätzung in der Vorprojektierungsphase beruhe auf Werten von aktuellen Ausführungsprojekten und würde eine schweizweite Gleichbehandlung der vom Verkehrslärm betroffenen Bevölkerung gewährleisten. «Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Das Thema wird deshalb noch im Nationalrat debattiert», sagt Grüter.

Die Gemeinde Eich will ihren Fall nun bis vor Bundesgericht ziehen. Das dürfte Astra-Chef Jürg Röthlisberger in nächster Zeit den Schlaf rauben. Denn falls die Gemeinde in Lausanne obsiegt, wäre ein Präzedenzfall geschaffen – mit enormen Auswirkungen auf das Staatsbudget: Die Lärmsanierung aller betroffenen Strecken würde den Bund laut Nationalrat Franz Grüter über sechs Milliarden Franken kosten.

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