Wenigstens den Berg von leeren PET-Flaschen wollte er noch entsorgen. Das hatte sich Martin Bürgler (Name geändert) schon vor Tagen vorgenommen. Papiersäcke lagen bereit. Doch als der Journalist an der Tür klingelt, sind die Flaschen noch immer da. Bürgler ist das peinlich.

Der knapp 50-Jährige ist kein Messie, manche Dinge kriegt er aber einfach nicht auf die Reihe. Das mit der Post zu Beispiel. Dutzende, vielleicht Hunderte ungeöffneter Briefe liegen auch heute auf Tischen verstreut. Manche schon seit Monaten. Viele stecken in grauen Umschlägen, wie sie Steuer- und Betreibungsämter verschicken. Mit welchem hätte er anfangen sollen? Er ahnte, dass nichts Erfreuliches darin stehen würde.

Martin Bürgler braucht dringend Hilfe. Jemanden, der seine Briefbomben entschärft, bevor sie explodieren und ihn in den finanziellen Ruin reissen. Selber ist er dazu nicht in der Lage. Wegen schwerer Depressionen ist er seit Jahren in ärztlicher Behandlung. Seine ganze Energie steckt er in seine Teilzeitarbeit als Monteur. Die will er nicht verlieren, hat er doch einen Arbeitgeber gefunden, der ihn trotz seiner Schwäche beschäftigt. Am Feierabend braucht er Ruhe, seinen Frieden.

Kennen gelernt haben sie sich in der Klinik

Neben Bürgler sitzt Salvatore Antonaci (Name geändert). Er hatte sich beim Beobachter gemeldet und den Journalisten zu seinem Freund eingeladen. Auch Antonaci ist um die 50. Auch er leidet unter Depressionen. Die beiden haben sich in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich kennen gelernt. Wenn es Antonaci gut geht, ist er sehr aufgeweckt. Wenn nicht, ist er kaum ansprechbar. 2013 war es besonders schlimm. «Die Krankheit kann einen vollkommen blockieren. Darum musste ich für einige Wochen in die Klinik. Ich war zu gar nichts mehr fähig.» Dort kam Antonaci mit seinem Leidensgenossen ins Gespräch. «Martin erzählte mir eine Geschichte, die ich zuerst für unmöglich hielt, dann für ein grosses Missverständnis, das sich bestimmt schnell klären liesse.» Es kam anders.

Bürgler erzählte ihm, er müsse Steuern bezahlen wie ein Grossverdiener. Weil er keine Steuererklärungen eingereicht hatte, schätzte das Steueramt sein Einkommen jedes Jahr höher ein. 2009 waren es 125'000 Franken, obwohl er nur 73'000 Franken verdient hatte. Ein Jahr später sollten es gar 200'000 Franken gewesen sein. Bürgler reagierte nicht, was schlimme Folgen hatte: Er erhielt Steuerrechnungen über mehr als 20'000 Franken, dann über mehr als 40'000 Franken – für ein einziges Jahr. Und das waren bloss die Gemeindesteuern der Stadt Zürich.

Die Übersicht über alle seine Rechnungen hatte Bürgler längst verloren. Immerhin hatte er 100'000 Franken geerbt. Eines Tages realisierte er aber, dass 50'000 Franken auf dem Konto fehlten. Ganz ohne Grund war der Betrag nicht verschwunden – die ungeöffneten Briefe … Mahnungen, Betreibungen und Pfändungen, die letztlich vollzogen wurden. Bürgler reagierte immer noch nicht. Das Ganze ist ihm bis heute peinlich. Selbst enge Freunde und seine Familie hat er nicht in seine Steuerprobleme eingeweiht.

Antonaci war empört. Es konnte doch nicht sein, dass ein psychisch schwer kranker Mensch finanziell ausgenommen wird und Einkommen versteuern muss, das er gar nie verdient hat. Gleich nach dem Klinikaufenthalt wollten Antonaci und Bürgler das Missverständnis beim Steueramt klären, eine Neuberechnung und die Rückzahlung der zu viel bezahlten Steuern verlangen.

Quelle: Kornel Stadler
Sie gingen zu zweit aufs Steueramt

Zu zweit machten sie sich auf den Weg. Zuerst zum städtischen Steueramt, dann zum kantonalen. Doch sie blitzten ab. «Man erklärte, dass Martin alle Fristen für Einsprachen verpasst habe», erinnert sich Antonaci. Bürgler solle sich doch Hilfe holen, damit er wenigstens in Zukunft die Steuererklärungen korrekt einreichen könne.

Antonaci ist eigentlich ein ruhiger Mensch, der geduldig zuhört, wenn ihm jemand etwas erklärt. «Ich kann aber auch laut werden, wenn Ungerechtigkeiten ignoriert werden. Die Leute rundherum sollen ruhig merken, dass etwas nicht stimmt.» Der Umgang der Steuerbeamten mit Bürgler war eine solche Ungerechtigkeit.

Bürgler hatte einen Freund gefunden, der nicht so schnell aufgibt. Nach den Amtsbesuchen griff er zu Telefon, Papier und Kugelschreiber. In handgeschriebenen Briefen forderte er die Beamten auf, die Steuersache endlich neu zu berechnen. Mal fehlte jedoch eine Vollmacht, dann war nicht die Stadt, sondern der Kanton zuständig. Und überhaupt sei es für alles zu spät.

«Niemand hört so schlecht wie jemand, der nicht hören will.»

Salvatore Antonaci*

Antonaci ist ein begnadeter Pianist, ausgebildet am Konservatorium. Wäre nicht diese hinterhältige Krankheit, würde er wohl regelmässig vor Publikum spielen. Heute unterrichtet er ab und zu einen Schüler. «Mehr geht nicht. Ich komme schnell an meine Grenzen.» Seine ganze Kraft brauchte er jetzt für seinen Freund. Doch die beiden kamen nirgends weiter. Die Fristen seien verpasst, es gelte, in die Zukunft zu blicken. Diesen Ratschlag mussten sie sich Dutzende Male anhören. Dass Bürgler dem Staat Steuern für Einkommen abgeliefert hatte, die er nicht verdient hatte, wollte niemand hören. «Niemand hört so schlecht wie jemand, der nicht hören will», weiss Musiker Antonaci. Doch damit wollte er sich nicht abfinden. Sie brauchten jemanden, der sich mit den Steuergesetzen so gut auskennt wie ein Pianist mit Noten.

Bei einer Rechtsberatung hörte Antonaci vom Paragraphen 15. Den gibt es in der Verordnung zum Steuergesetz. Er besagt, dass eine verpasste Frist wiederhergestellt werden muss, wenn sie ein Steuerpflichtiger aus schwerwiegenden Gründen verpasst hat – zum Beispiel wegen Krankheit. Das war bei Bürgler der Fall. Antonaci überzeugte ihn, gemeinsam einen Ombudsmann aufzusuchen. Ombudsmänner sollen ja helfen, wenn Bürger unzufrieden mit Beamten sind.

Man bedauert und weist die beiden ab

Der städtische Ombudsmann stellte sofort klar, dass er nicht zuständig sei. Steuereinschätzungen seien Sache des Kantons. Antonaci holte Bürgler ein weiteres Mal zu Hause ab, diesmal für den Besuch beim kantonalen Ombudsmann.

Antonaci schrieb auch einen Brief mit allen wichtigen Informationen zum Fall. Der Ombudsmann klärte ab. Im Mai 2014 erhielt Bürgler die Antwort. «Ich bedaure, dass ich bei dieser Sachlage nicht um eine Fristwiederherstellung beim kantonalen Steueramt bitten kann», teilte ihm der Ombudsmann mit. Bürgler habe zwar ein ärztliches Zeugnis beigelegt, das ihm mindestens seit 2012 eine absolute Handlungsunfähigkeit für administrative Aufgaben wie das Ausfüllen von Steuererklärungen bestätigte. Im selben Jahr hatte Bürgler auch seine Wohnung in Zürich verloren, weil eingeschriebene Briefe des Vermieters auf der Post liegen geblieben waren. Kurz danach folgte der Aufenthalt in der Klinik. Für die Jahre zuvor aber gebe es «keinen genügenden Beweis» für eine Handlungsunfähigkeit, so der Ombudsmann. Obwohl Bürgler bereits 2007 beim selben Psychiater in Behandlung war.

Sie wollten schon fast aufgeben

Statt für die weiter zurückliegenden Jahre eine ärztliche Beurteilung zu verlangen, empfahl der Ombudsmann den oft beschworenen Blick nach vorn: Hilfe in der neuen Wohngemeinde beantragen, damit die Steuererklärung künftig fristgerecht eingereicht wird. Für Bürgler und Antonaci war das ein schwerer Dämpfer. Jetzt hatten sie es mehrfach amtlich: Die Steuerwelt ist ungerecht, sich dagegen zu wehren hoffnungslos.

«Wir hatten uns schon fast damit abgefunden, als ich in der Zeitung einen Artikel über diesen Mann aus dem Zürcher Oberland las.» Es ging um einen Legastheniker aus der Gemeinde Dürnten, der ebenfalls viel zu hoch eingeschätzt worden war. Die Bevölkerung wehrte sich gegen die Ungerechtigkeit, letztlich musste die Gemeinde das zu viel eingezogene Geld zurückzahlen. Der Beobachter hatte den Fall Ende 2014 publik gemacht und damit eine anhaltende Debatte über ungerechte Steuereinschätzungen ausgelöst. «Mein Freund ist wegen seiner schweren Depressionen in der genau gleichen Situation», dachte Antonaci und meldete sich beim Beobachter.

Der «Fall Suter»

Der 41-jährige Ernst Suter arbeitet als Hilfsarbeiter m Zürcher Oberland. Weil er Legastheniker ist, bereitet ihm Papierkram grösste Mühe. Eine Steuererklärung hat Suter nie ausgefüllt, weshalb sein Einkommen Jahr für Jahr immer höher eingeschätzt wird. Aus Scham und Überforderung wehrt er sich aber nicht – bis seine gesamten Ersparnisse aufgebraucht sind.

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Quelle: Kornel Stadler

Beim Besuch in Bürglers neuer Wohnung im Kanton Aargau war schnell klar, dass hier die Fortsetzung des zerstörerischen Spiels mit Einschätzungen droht. Schichten von ungeöffneten Briefen lagen herum. Kurz nach Weihnachten bewegte Antonaci Bürgler dazu, sich mit einem Brief an die Erwachsenenschutzbehörde zu wenden. Er war jetzt bereit, sich von einem Beistand unterstützen zu lassen. Alleine hätte er sich wohl nie zu diesem Schritt durchringen können. Antonaci motivierte ihn, den Brief auch wirklich abzuschicken und den Termin mit einer Sozialarbeiterin der Gemeinde einzuhalten. Kurz darauf wurde die Beistandschaft bewilligt. Und ein vom Erwachsenenschutzdienst beauftragter Jurist begann mit der Aufarbeitung der Steuergeschichte.

Bürglers Psychiater bestätigte in einem ausführlicheren Gutachten, sein Patient sei seit 2007 bei ihm in Behandlung und könne wegen der schweren Depression seine administrativen Pflichten nicht wahrnehmen. Und noch etwas schrieb er in dem Attest: 

«Für einen kranken Menschen, der nicht mehr in der Lage ist, (…) das Ausfüllen einer Steuererklärung wahrzunehmen, bedeutet eine ungerechtfertigte Strafe eine doppelte Strafe!»

Plötzlich schien vieles in Bewegung zu geraten. Doch Antonaci traute der Sache noch nicht. Zeitweise telefonierte er fast täglich mit der Beiständin und dem Zürcher Steueramt, schrieb unzählige Briefe, um sicherzugehen, dass die Aufarbeitung noch im Gang war. «Ich weiss, manchmal bin ich eine Nervensäge. Aber manchmal ist das offenbar nötig.»

Die Steuerbehörde rechnet nach

Monate später ist klar, dass sich der Einsatz von Antonaci, des Beobachters und des Erwachsenenschutzes gleich mehrfach gelohnt hat. Das Steueramt des Kantons Zürich hat die Steuern auch für die zurückliegenden Jahre neu berechnet, Martin Bürgler erhält über 100'000 Franken zurück. Seine Beiständin sorgt dafür, dass die Post nicht mehr liegen bleibt. Und auch das Problem mit den PET-Flaschen dürfte gelöst sein. Eine Putzfrau hilft Bürgler regelmässig, die Wohnung in Ordnung zu halten. Er konzentriert sich auf seine Arbeit und kann mit seiner Krankheit leben, ohne dass jederzeit alles zusammenzubrechen droht.

Martin Bürgler hatte Glück, in der Klinik einen Menschen gefunden zu haben, der hartnäckig blieb und Hilfe organisierte. Und er hatte einen Psychiater, der ihm die Krankheit über Jahre zurück bestätigen konnte. «Was aber passiert, wenn einer weder Freunde noch einen Arzt hat?», fragt sich Antonaci.

Der Fall Dürnten und die Folgen

Vor gut einem Jahr machte der Beobachter den Fall eines Legasthenikers aus Dürnten ZH publik. Der Mann hatte über Jahre keine Steuererklärung eingereicht und wurde darum von den Steuerbehörden immer höher eingeschätzt, schliesslich auf 300'000 Franken Einkommen, fünfmal mehr, als er tatsächlich verdiente. Der Beobachter thematisierte auch den Fall einer depressiven Spitalärztin aus Männedorf ZH, die 700'000 Franken verdient haben soll, das Dreifache ihres realen Lohns.

Im Januar berichtete der «Anzeiger von Uster» über einen Mann, der in Maur ZH auf einem elterlichen Bauernhof lebt und unter psychischen Problemen leidet. Das Steueramt schätzte ihn auf 180'000 Franken im Jahr ein, tatsächlich verdiente er rund 30'000 Franken.

Die Betroffenen hatten sich aus Scham nicht gegen die Einschätzungen gewehrt. Eine im nationalen Parlament hängige Initiative verlangt, dass Personen mit schweren Beeinträchtigungen auch dann eine Steuerrevision beantragen können, wenn ihre Steuereinschätzung bereits rechtskräftig geworden ist.

Dafür müssen Betroffene ihre Einschränkung aber rückwirkend belegen können. Das ist schwierig, da sich nicht jeder psychisch Kranke Hilfe holt. In Zürich sollen Gemeinden darum vertiefte Abklärungen vornehmen, wenn jemand wiederholt keine Steuererklärung eingereicht hat – das fordern zumindest kantonale Parlamentarier.