Gesellschaft: Die «Ich AG» feiert Hochkonjunktur
In der Schweiz breitet sich ein neuer Virus aus: der Egoismus. Die Bereitschaft zu ehrenamtlichem Handeln schwindet immer mehr – mit dramatischen Folgen für die gesamte Gesellschaft.
«Ein Freiwilligenamt übernehmen? Nein, das war für mich noch nie ein Thema.» Steffi Thierstein, 26, Radiomoderatorin beim Jugendsender Network 105, ist «überzeugte Egoistin» und geht in ihrer Freizeit lieber shoppen.
Wäre Steffi Thierstein ein Einzelfall, so wäre das nicht der Rede wert. Schliesslich soll es weiterhin freiwillig bleiben, ein Freiwilligenamt zu übernehmen. Problematisch ist, dass der Egoismus salonfähig geworden ist. Die Selbstentfaltung wird in der individualisierten Gesellschaft bereits im jugendlichen Alter zum Mass aller Dinge. Und dass da ein Parfum mit dem sinnigen Namen «Egoïste» zum Verkaufsrenner wird, ist bezeichnend.
Engagement ist nicht gefragt
Der gute alte Landdienst spürt diese Entwicklung dramatisch. Die Zahl der Einsätze reduzierte sich seit dem Höhepunkt in den sechziger Jahren um zwei Drittel – Tendenz fallend. Landdienst-Geschäftsleiter Bruno Pfeuti analysiert in einem internen Papier die Gründe: «Künstliche Lebenswelten faszinieren immer mehr, das Bewusstsein für die Gemeinschaft nimmt ab, materialistische Einstellungen und Profitdenken wachsen, konsumorientierte und sportliche Ferien- und Freizeitangebote ("fun") verdrängen traditionelle Angebote.»
Schleichender verläuft der Prozess bei der Pfadi: Die Mitgliederzahlen sanken in den letzten fünf Jahren um zehn Prozent – auf mittlerweile 55'000. «Der Spass- und Lustfaktor spielt eine viel grössere Rolle als früher», sagt Pfadi-Bundesleiterin Katharina Kalcsics. Auch beim Christlichen Verein Junger Menschen (Cevi) stagniert die Mitgliederzahl, und Verantwortung will fast niemand mehr übernehmen: Leiterposten sind unbeliebt, «häufig muss die Arbeit aufgeteilt werden», so Felix Wahrenberger, Leiter der Bubenjungscharen Aargau West, Solothurn, Luzern.
«Engagement ist nicht mehr so im Trend», konstatiert auch Karolina Frischkopf von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände. «Viele gehen den einfachsten Weg und machen nur noch das, was ihnen am besten passt. Diese Entwicklung macht mir Sorgen.»
Doch ist es schlimm, wenn Jugendliche skateboarden, statt beim Bauern Kirschen zu pflücken, wenn sie im Internet surfen, statt im Wald Seilbrücken zu bauen, wenn sie im Fitnessstudio ihre Muskeln stählen, statt im Turnverein als Kassier zu amten?
Soziologen sind überzeugt: Frühes soziales Engagement fördert die Entwicklung zu gemeinschaftsfähigen Menschen. Die Einsätze junger Leute auf den Bauernhöfen helfen den Stadt-Land-Graben zuzuschütten, lobt Bundesrat Moritz Leuenberger den Nutzen des Landdienstes. Und in der Pfadi lernen die Jugendlichen schon früh, Verantwortung für andere zu übernehmen.
Es sind aber nicht nur die Jugendlichen, die mehr dem eigenen Vergnügen frönen und weniger den Mitmenschen helfen wollen. Landauf, landab kämpfen zahllose Organisationen, die in irgendeiner Form dem Gemeinwohl dienen, gegen den Mitgliederschwund. Wer sich überhaupt noch engagiert, tut dies viel wählerischer und zielgerichteter als früher, sagt Guido Münzel, Koordinator der Freiwilligenarbeit beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK).
Und vor allem kürzer: Gefragt sind projektbezogene Einsätze. Das ist zwar auch hilfreich, doch längerfristig Verantwortung übernehmen will kaum noch jemand. «Ich spüre diese Tendenz sogar bei mir selber», gibt die Luzerner Ex-Nationalrätin Judith Stamm zu. Die Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft entscheidet sich «lieber für ein befristetes Projekt statt für eine vierjährige Amtszeit».
Feuerwehr schlägt Alarm
Konkrete Auswirkungen hat diese Entwicklung zum Beispiel auf die Feuerwehr, die vielerorts noch immer freiwillig organisiert ist: «Wir haben grosse Probleme bei der Rekrutierung. Wenn das so weitergeht, führt dies zu tieferen Standards. Das heisst, dass es nach einem Alarm länger dauert, bis wir einsatzbereit sind», sagt Urs Schlumpf, Feuerwehrkommandant in Baar ZG. Im letzten Jahr verzeichnete seine Truppe 11 Eintritte und 16 Abgänge.
Der Direktor des schweizerischen Feuerwehrverbands, Ulrich Jost, hält die Befürchtung einer langsameren Feuerbekämpfung für unbegründet: «Wenn es zu wenig Freiwillige gibt, können die Gemeinden ja das Obligatorium einführen.» Doch das sei einfacher gesagt als getan, kontert Praktiker Schlumpf: «Die Leute werden immer mobiler. Jemanden zu verpflichten, der in Baar wohnt, aber in Zürich arbeitet und dort bei der Freundin übernachtet, nützt nichts.»
Ratlose Gemeinderäte
Das Schweizerische Katastrophenhilfekorps würde doppelt so viele Leute brauchen wie derzeit zur Verfügung stehen, der Samariterbund überaltert immer mehr, zahlreiche Frauenvereine finden kaum noch Vorstandsmitglieder – die Liste liesse sich beliebig verlängern. Der Wertewandel hat drastische Folgen für die Gesellschaft.
«Freiwillige übernehmen eine Reihe von wichtigen Aufgaben, die der Staat nicht erfüllen kann – von Mittagstischen für Schulkinder bis hin zu Transportdiensten für Behinderte», sagt Monika Stocker, Chefin des Stadtzürcher Sozialdepartements. «Ohne sie wäre die soziale Gerechtigkeit in diesem Land nicht zu erreichen gewesen.» Allein im Kanton Zürich gibt es rund 2000 sozial und gemeinnützig tätige Institutionen. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck fasst prägnant zusammen: «Ohne freiwilliges Engagement für andere würden alle modernen Gesellschaften sofort zusammenbrechen.»
Auch in der Politik – einem zentralen Bereich des Schweizer Milizsystems – zeigt sich, dass die Egoisten im Vormarsch sind: Sogar dort, wo man eine heile Welt vermutet, finden sich kaum noch nebenamtliche Gemeinderäte, die die Geschicke der Kommunen leiten wollen. So meldete sich Anfang Jahr niemand für den dreiköpfigen Gemeinderat der 160-Seelen-Gemeinde Nusshof BL. Dann rüttelte das Pflichtbewusstsein doch noch drei beherzte Männer wach; die Behörde wurde im zweiten Anlauf bestellt. Gemeindepräsident Paul Richener zur schwierigen Situation: «Die Arbeit in einer Kleingemeinde ist nicht weniger arbeitsintensiv als für eine mittlere Gemeinde. Auch wir haben jede zweite Woche Sitzung, wir müssen in Zweckverbänden mitwirken und die Anordnungen des Kantons umsetzen.»
Auch im aargauischen Zufikon führte erst der zweite Anlauf zum Erfolg. Gemeindeammann Kurt Fischer trat dort ein Jahr vor Ablauf der vierjährigen Amtsperiode zurück. Für den ersten Wahlgang fand sich niemand, und Fischer fürchtete bereits, der Kanton könnte ihn verpflichten, ein weiteres Jahr durchzuhalten. Nun hat sich ein früherer Gemeinderat bereit erklärt, den Laden wieder zu schmeissen. Es ist wohl kein Zufall, dass er ein Frühpensionierter ist.
Dass die Arbeit in der Behörde nicht mehr so attraktiv ist, führt Paul Müller, Gemeindeammann in Gallenkirch AG, auf einen besonderen Umstand zurück: «Wir haben zwar mehr zu tun, aber weniger zu sagen. Jetzt steht bei uns der Entscheid über eine Natel-Antenne an. Ein Teil unserer Einwohner will die nicht. Laut Kanton sind die Bedingungen jedoch erfüllt. Wir haben also gar keine Wahl, müssen aber trotzdem entscheiden. Das ist unbefriedigend.»
Zwang zur Freiwilligkeit
Für den Politologen Andreas Ladner gibt es nur einen Weg, um das Milizsystem zu erhalten: mehr Aus- und Weiterbildung, bessere Bezahlung und weniger administrativen Kram. Ladner: «Die Aufgaben werden immer komplexer – dafür sind die Kommunalpolitiker nicht gerüstet.»
Seit rund zehn Jahren ist die Rekrutierung von Behördenmitgliedern ein ernsthaftes Problem. Ladner: «Bis in die achtziger Jahre war Amtszeitbeschränkung noch ein Thema in der Schweizer Politik. Heute hört man kaum mehr etwas davon.» Kein Wunder, denn manchenorts wird schon wieder über den Amtszwang diskutiert.
Mit einem Obligatorium befasst sich auch der Basler Soziologe Ueli Mäder. Seine Idee: eine verbindliche «Sozialzeit» für Jugendliche, die eine erste Ausbildung abgeschlossen haben. «Der Einsatz für andere lässt auch Menschen aus privilegierten Umfeldern die sozialen Realitäten wahrnehmen. Das fördert den Zusammenhalt in diesem Land. Gleichzeitig könnten alle ihre Fähigkeiten erweitern», begründet er seinen Vorschlag, den er im Kantonsparlament von Basel-Stadt lancieren will.
Ob Mäders Idee in absehbarer Zeit umgesetzt wird, ist fraglich. Fest steht hingegen: Die Schweizerinnen und Schweizer nehmen den zunehmenden Egoismus als Gefahr wahr. Beleg dafür ist unter anderem das in der Wirtschaftszeitung «Cash» publizierte «Angstbarometer», mit dem das GfS-Forschungsinstitut alljährlich die Bedrohungslage der Bevölkerung misst. Der Egoismus rangiert dabei seit Jahren in den obersten Rängen – derzeit auf Platz zwei, nur knapp hinter der Globalisierung, aber deutlich vor andern Gefährdungen wie Kriminalität oder Armut.
Egoismus wird zum Kult
Egoisten machen nicht nur Angst, sie sind auch zahlreicher als vermutet. Diesen Schluss lässt eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demoscope fürs «Magazin» zu. Aufgrund von Befindlichkeit und persönlichen Einstellungen wurden 1000 Befragte in Kategorien eingeteilt: Die «Neo-Egoisten» bilden zusammen mit den «Erfolgreichen» mit je 36 Prozent die Spitzengruppe. Vor allem Jüngere, Singles und Gutverdienende befinden sich darunter. Sie interessieren sich wenig fürs politische Geschehen, üben selten eine ehrenamtliche Tätigkeit aus und stimmen überdurchschnittlich oft folgender Aussage zu: «Man muss ein Schwein sein in dieser Welt, man muss gemein sein in dieser Welt.»
Genau in dieses Bild passt der aktuelle Erfolg des Buchs «Generation Golf» von Florian Illies. Der 29-jährige Kulturredaktor der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» beschreibt darin das Lebensgefühl der 25- bis 35-Jährigen. «Wir lieben es, gute Laune zu haben, und wir möchten uns diese gute Laune nicht verderben lassen. Wir haben keine Lust, uns einen Abend lang über die Kurdenverfolgung im Nordirak die Köpfe heiss zu reden, weil das zu anstrengend ist», gab er dem «Tages-Anzeiger» zu Protokoll. Stattdessen geht die «Generation Golf»
ins Fitnessstudio, trinkt Cappuccino, kümmert sich ums eigene Wohlergehen und pflegt den Kurs der «eigenen Ich AG». Politik ist langweilig, und wenn schon wählen, dann sicher jene Politiker, die die schönsten Anzüge tragen.
Dieser Trend gefährdet langfristig nicht nur die traditionellen Verbände und Strukturen, sondern auch Sozialwerke wie die AHV. Die heutigen Jugendlichen hätten keine Gewähr, dereinst einmal eine AHV-Rente im heutigen Umfang zu erhalten, ist der Wirtschaftswissenschafter Walter Wittmann überzeugt. Und Carlo Marazza, Chef des Tessiner Sozialversicherungsamts, ergänzt: «Die Jugendlichen interessieren sich mässig für unsere Sozialversicherungen. Aber warum sollten sie auch – sie haben ja die Entwicklung der AHV nicht gleich erlebt wie wir.» Da liegt die Schlussfolgerung nahe: Einem grossen Teil der Jugend ist das Sozialwerk mehr oder weniger egal; eine Mehrheit der unter 35-Jährigen will die AHV gemäss einer Isopublic-Umfrage sogar privatisieren.
Es schwingt wohl eine Spur Berufsoptimismus mit, wenn etwa der deutsche Soziologe Ulrich Beck fordert: «Wir brauchen eine Gesellschaft engagierter Individuen.» Schön und gut, bloss kümmert sich niemand darum.
Immerhin hat die Uno das Problem erkannt und 2001 zum Jahr der Freiwilligen proklamiert. Hierzulande ist für die Umsetzung der Verein «iyv-forum.ch» verantwortlich, Präsidentin ist alt Nationalrätin Judith Stamm. Beinahe alle vom Beobachter angefragten Vereine setzen grosse Hoffnungen in das Freiwilligenjahr. Der Bund rüstet das Projekt mit einer Starthilfe von 100'000 Franken aus. Die Wirtschaft jedoch hält sich bisher zurück.
Kein Wunder, spielt Judith Stamm da mit einem gewagten Gedanken: «Vielleicht sollten die freiwilligen Helferinnen und Helfer einmal eine Woche lang streiken, dann sähen alle, was nicht mehr funktioniert: Mahlzeitendienst für Senioren, Rotkreuz-Fahrdienste für Behinderte, Samaritereinsätze an Popkonzerten…»