Flüchtlinge, die bei ihrer Ankunft nicht privat unterkommen, werden zuerst einem der schweizweit 21 Bundesasylzentren zugeteilt. Zuständig für diese Zentren ist das Staatssekretariat für Migration (SEM). Für Flüchtlinge mit Behinderung gestaltet sich die Unterbringung dort besonders schwierig.

Das SEM liess auf Anfrage des Beobachters verlauten: «Ganz generell und holzschnittartig kann vielleicht gesagt werden, dass in den regulären Bundesasylzentren die gängigen Normen berücksichtigt werden, um eine Unterbringung von Personen mit üblichen Beeinträchtigungen zu ermöglichen.»

Felicitas Huggenberger, Direktorin der Behindertenorganisation Pro Infirmis, sieht das anders.

Beobachter: Frau Huggenberger, mit dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine sind auch Menschen mit Behinderung gekommen. Ist die Pro Infirmis involviert?
Felicitas Huggenberger: Ja. Wir haben von Verwandten von ukrainischen Flüchtlingen Anfragen erhalten, weil die Bundesasylzentren nicht für Menschen mit Behinderung eingerichtet sind. Dabei geht es nicht nur um eingeschränkte Mobilität, sondern auch um kognitive Einschränkungen, Sehbehinderungen, spezifische Pflegebedürfnisse. Selbst einen Dolmetscher in Gebärdensprache zu organisieren, ist für die Bundesasylzentren schwierig. 


Heisst das, dass die Bundesasylzentren nicht den im Behindertengleichstellungsgesetz vorgeschriebenen Anforderungen entsprechen?
Wir haben die Beobachtung gemacht, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung vergessen gehen. Deshalb nehmen wir an, dass die Bundesasylzentren diesbezüglich nicht nur in Einzelfällen, sondern generell Defizite haben.


Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit diesen Einrichtungen?
Wir arbeiten mit den Flüchtlingshilfe-Organisationen zusammen und versuchen, die Zentren möglichst pragmatisch zu unterstützen. Wegen des aktuellen Ansturms werden Mankos besonders sichtbar.


Stimmt die Wahrnehmung, dass die Pro Infirmis Aufgaben übernehmen muss, die eigentlich bei den Asylzentren des Bundes lägen?
Ja. Die Zentren sind überfordert. Deshalb versuchen wir, sie so gut wie möglich zu unterstützen. Aber auch wir können nicht in allen Fällen helfen. 


Sind bei der Pro Infirmis in diesem Zusammenhang auch Beschwerden eingegangen?
Ich würde es nicht Beschwerden nennen. Es sind vielmehr verzweifelte, hilfesuchende Menschen, die sich an uns wenden. Wir bearbeiten derzeit rund 50 Fälle, die wegen ihrer Komplexität sehr aufwendig sind. Und das Problem wird sich wohl noch verschärfen. Wir erwarten, dass die Anzahl Flüchtlinge mit Behinderung im Vergleich zur gesamten Flüchtlingszahl eher noch zunehmen wird. 

Zur Person

Felicitas Huggenberger, Direktorin der Behindertenorganisation Pro Infirmis

Felicitas Huggenberger, Direktorin der Behindertenorganisation Pro Infirmis.

Quelle: Privat
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