Nach den Sommerferien wird Rahel* in Sarnen OW das Gymnasium besuchen. Ein neuer Lebensabschnitt. Eine Banalität? Nicht für die 16-Jährige, deren Familie vor sechs Jahren aus Eritrea flüchten musste und heute von Sozialhilfe lebt.

Anfang November 2017. Rahel begleitet ihre Mutter aufs Sozialamt Lebensunterhalt Sozialhilfe – was heisst das überhaupt? ihres Wohnorts Kerns, sie soll bei einem Beratungsgespräch übersetzen. Beiläufig fragt die Beamtin das Mädchen, das älteste von vier Geschwistern, was sie nach der obligatorischen Schule vorhabe. Rahel erzählt, sie möchte eine weiterführende Schule besuchen – eine Fachmittelschule, die ihr die beste Basis für einen Gesundheitsberuf bieten würde, oder die Kantonsschule in Sarnen, das Kollegi.

Ein logischer Schritt. Rahel hat in den Hauptfächern Noten von 4,5 an aufwärts. Bei den überfachlichen Kompetenzen wie Sozialverhalten oder Arbeitsmethodik erreicht sie die beste Bewertung. Nur: Die Verantwortlichen beim Sozialdienst Kerns kümmert das nicht. Sie haben eine andere Logik.

Weiter zur Schule gehen komme nicht in Frage, bekommt das Mädchen zu hören. In der schriftlichen Verfügung, die die Behörde später nachreicht, heisst es: Ein Kind von Sozialhilfebezügern müsse «mit der Ausbildung baldmöglichst ein existenzsicherndes Existenzminimum Was muss zum Leben reichen? Einkommen erzielen». Schon beim Gespräch auf dem Amt wird Rahel deshalb angewiesen, eine Lehre als Kauffrau oder Fachfrau Gesundheit zu absolvieren.

Eingeschüchtert

«Ich war völlig verdattert», erinnert sich der Teenager. Und war ziemlich eingeschüchtert, als die Gemeindeangestellte noch einen draufsetzte: Falls sie sich nicht füge, müsse sie damit rechnen, dass die bevorschussten Alimente nicht mehr ausbezahlt werden. Damit würden die monatlichen Zuschüsse an die Familie um 400 Franken gekürzt.

Den Zugang zu einer höheren Schulausbildung verwehren, nur weil die Eltern vom Staat unterstützt werden? Im Dorfschulhaus sorgt der Entscheid für Entsetzen. Heilpädagogin Maja Imfeld* sagt, ihr habe es «erst einmal den Nuggi rausgehauen». Imfeld begleitet Rahel seit Beginn der Oberstufe – und besonders intensiv, seit es um die Berufswahl geht. Vom Eingriff des Sozialamts erfährt Imfeld erst beim Elterngespräch im Dezember. Bis dahin hatte sich die Jugendliche nicht getraut, sich jemandem anzuvertrauen.

Aus dem anfänglichen Ärger wird Widerstand. Um die Weihnachtszeit reicht Rechtsanwalt Sandor Horvath im Auftrag der betroffenen Familie Beschwerde gegen die Verfügung des Kernser Sozialdienstes ein. Eine Kostengutsprache der Stiftung SOS Beobachter sichert sein Mandat finanziell ab. Der Anwalt aus Luzern spart nicht mit deutlichen Worten. Indem Rahel «aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht die gleiche Ausbildung erhalten soll wie ihre Schulfreundinnen, die keine Sozialhilfe beziehen, wird das Gleichbehandlungsgebot krass verletzt», schreibt er.

Horvath legt sich häufig ins Zeug für die Rechte von Menschen am Rand der Gesellschaft. «Ich bewundere Rahels Mut ausserordentlich. Es ist selten, dass es eine Flüchtlingsfamilie wagt, sich gegen die Behörden zu stellen.»

Wacklige Verfügung

Horvath hat alle Trümpfe in der Hand. Die wacklige Verfügung des Sozialdienstes bietet reichlich Angriffsfläche. So argumentiert die Behörde mit den schweizweiten Sozialhilferichtlinien für junge Erwachsene. Dabei war Rahel zu Beginn des Konflikts erst 15. Für unter 18-Jährige gelten andere Regeln. Horvaths Beschwerde listet mehrfache Verstösse gegen die durch die Bundesverfassung garantierten Grundrechte auf. Namentlich: Verletzt wurden das Recht auf freie Berufswahl, das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Förderung ihrer Entwicklung, das Recht auf persönliche Freiheit.

Schweres Geschütz. Die Kernser Behörden rudern zurück. Im Frühjahr teilt der Sozialdienst mit, man ziehe die Wiedererwägung des Schulverbots in Betracht. Allerdings unter einer Bedingung: Die Berufsberatung Obwalden müsse im Hinblick auf ein konkretes Berufsziel eine Einschätzung von Rahels Fähigkeiten samt möglichen Ausbildungswegen vornehmen und darüber «ausführlich Auskunft geben».

Dem Berufsberater sind Rahels Persönlichkeitsrechte aber wichtiger als der amtliche Wissensdurst. Es sei nicht Aufgabe der Berufsberatung, in den Willen von Jugendlichen einzugreifen. Man zeige lediglich Möglichkeiten auf. Anwalt Sandor Horvath doppelt nach: «Als minderjährige Sozialhilfeempfängerin kommt meine Klientin durch ihr starkes Bekenntnis zu einer Ausbildung ihrer Schadensminderungspflicht vollumfänglich nach und leistet einen Integrationsbeitrag durch Bildung. Einem Kind den Zugang zu einer Schule zu verwehren wäre in hohem Mass skandalös.»
 

«Ich bewundere Rahels Mut ausserordentlich. Es ist selten, dass es eine Flüchtlingsfamilie wagt, sich gegen die Behörden zu stellen.»  

Sandor Horvath, Rechtsanwalt


Nach fünfmonatigem Hin und Her sieht das schliesslich auch der Kernser Sozialdienst so. Er hebt die ursprüngliche Verfügung auf. Rahel kann eine weiterführende Schule besuchen. Und zwar auf Kosten der Gemeinde Kerns.

Gemeindeschreiber Roland Bösch will nicht sagen, was den Ausschlag für diese Kehrtwende gegeben hat. Zur Wiedererwägung einer Verfügung komme es, wenn nach ergänzenden Abklärungen «mindestens teilweise eine neue Faktenlage besteht», teilt er bloss vage mit. Bei der Frage, welche Ausbildung eines unterstützungsbedürftigen Kindes als angemessen gilt und mit Sozialhilfe zu finanzieren ist, gebe es einen Ermessensspielraum. Auf konkrete Fragen zum Fall geht Bösch nicht ein – «aus datenschutzrechtlichen Gründen».

«Praktikum in Staatskunde»

Unterdessen hat sich geklärt, wo Rahels Zukunft liegt: im Kollegi Sarnen. Aufgrund ihrer guten Leistungen wurde ihr im April der Übertritt in die Kantonsschule bestätigt. Den Entscheid hat die Schule gefällt, ohne die komplizierten Begleitumstände zu kennen.

Zum Abschied von der Volksschule hat Rahel von der Heilpädagogin Maja Imfeld einen Ordner geschenkt bekommen. Darin sind alle Ereignisse dokumentiert. Mit dabei: ein Exemplar der Bundesverfassung. «Rahel hat gelernt, wie unser Land funktioniert und welche Rechte Bürger haben», sagt Imfeld. «Ein regelrechtes Praktikum in Staatskunde.» 

Bei der 16-Jährigen klingt das so: «Früher habe ich gedacht, was eine Behörde sagt, werde schon stimmen. Jetzt nicht mehr.» Sie hat ihre Lektion gelernt. Und dem Sozialamt eine erteilt. 

 

*Namen geändert

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Dani Benz, Ressortleiter
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