Frau Genner, wie viel Zeit haben Sie heute schon am Handy verbracht?
Vermutlich mehr, als ich gern zugeben mag.


Wozu haben Sie Ihr Gerät verwendet?
Für unglaublich viele Dinge. Ich habe beim Kochen den Timer gestellt, Rechnungen bezahlt, Tickets gelöst, etliche Mails versandt, Dokumente geteilt, Whatsapp und LinkedIn genutzt und so weiter.


Verliert das Leben nicht an Farbe, wenn alles mit diesem kleinen schwarzen Kästchen erledigt werden kann?
Tatsächlich wird vieles einfacher – und einiges absurderweise auch komplizierter. Das ist eins meiner Lieblingsthemen: das Produktivitätsparadox in der IT.


Wie lautet es?
Ironischerweise werden Produktivitätsgewinne, die mit digitalen Technologien erreicht werden, nicht selten wieder aufgehoben. Oft muss nämlich enorm viel Zeit investiert werden, nur um dafür zu sorgen, dass technisch alles einwandfrei funktioniert. Es wird mitnichten alles besser und effizienter, was man digital löst. Darum sollte stets die Frage gestellt werden: Lohnt es sich?


Also: Lohnt es sich?
Technologie ist spannend, Innovation wichtig. Davon bin ich überzeugt. Wir müssen aber darauf achten, dass niemand auf der Strecke bleibt. Ältere Menschen zum Beispiel, die nicht so technikbegeistert sind, dürfen nicht ausgeschlossen werden.

«Die Entwicklung ist nicht nur positiv, klar. Trotzdem ermuntere ich alle, sich mit der Digitalisierung auseinander­zusetzen.»

Sarah Genner, Digitalexpertin und Dozentin

Gelingt uns das?
Besser als anderen. Das hat zwei Gründe: Erstens haben wir in der Schweiz eine überdurchschnittlich gut ausgebaute Infrastruktur, der Zugang zum Internet ist für fast alle gewährleistet. Zweitens sorgt unsere Geografie für eine kleinräumige Gesellschaft. Wir sind einander nahe und können uns gut unterstützen und miteinander vernetzen. Das macht uns sozialer. Wir sind auf gutem Weg.


Trotzdem gibt es einen digitalen Graben, der die Gesellschaft in zwei Lager teilt. Es gibt Menschen, die sich aus Prinzip dem Smartphone verweigern.
Die Entwicklung ist nicht nur positiv, klar. Trotzdem ermuntere ich alle, sich mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Ein Smartphone bringt viele Vorteile, und wer die Technik bewusst zu seinen Gunsten nutzt, kann sich ein Stück Unabhängigkeit bewahren Smartphone für Senioren Hilfe bei der Handybedienung . Während der Nacht haben Handys allerdings nichts im Schlafzimmer verloren. Auch am Esstisch gehören sie ausser Reichweite.


Manche ältere Menschen fürchten sich vor der Technik.
Niemand soll sich schämen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Übrigens: Dass die Jungen, die mit dem Handy aufgewachsen sind, digital kompetenter sind, ist ein Mythos. Sie mögen weniger Berührungsängste haben, dafür fehlt ihnen oft das Gespür für einen sinnvollen Umgang mit dem Internet. Ältere Menschen empfinden den Zugang zu digitalen Technologien als deutlich befreiender und weniger stressig als jüngere.


Weshalb ist das so?
Weil ältere Menschen oft besser gelernt haben, Prioritäten zu setzen und sich abzugrenzen. Früher gab es weder Handys noch E-Mails. Wenn die Chefin in den Ferien anruft, fällt ihnen das Ignorieren leichter.

«Die digitale Transformation erfasst sämtliche Bereiche unseres Lebens. Alles wird neu gedacht. Alles muss neu erlernt werden.»

Sarah Genner

Der Berner Weihnachtsmarkt auf der Kleinen Schanze ist bargeldlos. Wie finden Sie das?
Für Firmen ist es ineffizient, sämtliche Bezahlmöglichkeiten Twint, Debit- oder Kreditkarte Wie steige ich auf Bargeldlos um? anzubieten, daher ist es nachvollziehbar, dass sie auf Bargeld verzichten. Digital ist auch hier nicht immer effizienter. Am Zürcher Theaterspektakel hing dieses Jahr an einem Essenstand ein Schild: «Bitte bar bezahlen, es geht schneller». Wenn Kundinnen und Kunden ihre Banking-Apps auf dem Handy suchen, kann es dauern.


2021 wurde das Kursbuch eingestampft, 2022 das gedruckte Telefonbuch. Was folgt als Nächstes?
Niemand weiss das. Sicher ist nur: Die digitale Transformation erfasst sämtliche Bereiche unseres Lebens. Alles wird neu gedacht. Alles muss neu erlernt werden. Meine Mutter hat mir als Kind beigebracht, das Kursbuch zu lesen. Sie sagte: «Das ist wichtig!» Heute ist anderes wichtig geworden. Die Bedienung der SBB-App zum Beispiel. Es ist eine spannende Zeit!


Sie klingen beinahe euphorisch.
Ich bin weder digitale Evangelistin noch Kulturpessimistin. Ich sehe die Chancen und die Risiken. Mein Job ist es, Brücken zu bauen über den digitalen Graben, damit wir gut durch diese Zeiten des Umbruchs kommen.

«Das Smartphone hat uns zu Cyborgs gemacht. Die ­Verschmelzung von Biologie und ­Technologie ist ­Realität geworden.»

Sarah Genner

Wo sehen Sie die grössten Chancen?
In der ortsübergreifenden Teamarbeit steckt sehr viel Potenzial. Wir sind flexibler, mobiler, vernetzter. Fast jede Chance hat aber auch Schattenseiten: Der Zugang zu schier unendlichen Informationen kann in eine digitale Überforderung münden. Es gibt einen Grund dafür, dass «digitale Entgiftungskuren» boomen. Die Herausforderung besteht darin, eine gute Balance zu finden.


Wenn man sich heute im Tram umschaut, kleben alle am Bildschirm. Beunruhigt Sie das?
Die Vorstellung der Menschmaschine schwirrt seit den 1960ern in unseren Köpfen herum. Vor ein paar Jahren ist es dann passiert: Das Smartphone hat uns zu Cyborgs gemacht Ständig am Handy Alle da und keiner präsent , die Verschmelzung von Biologie und Technologie ist Realität geworden. Wenn man die Leute fragt, worauf sie eher verzichten würden, auf den Internetzugang oder den Geruchssinn, antworten die meisten: auf den Geruchssinn. Das Smartphone ist für uns zu einer Art Sinnesorgan geworden. Wenn heute jemand sagt, sie gehe ohne Handy zum Haus raus, ist das fast schon rebellisch.


Oder mutig. Man ist ganz auf sich allein gestellt, kann kaum noch irgendwo bezahlen. Gibt es ein Recht auf analoges Leben in digitalen Zeiten?
Wer sich Digitalem verweigert, nimmt einen gewissen Verlust an gesellschaftlicher Teilhabe ganz bewusst in Kauf. Wer etwa Whatsapp nicht nutzt, ist darauf angewiesen, dass er von Freundinnen oder von Bürokollegen mündlich oder via andere Kanäle von der bevorstehenden Geburtstagsparty erfährt. Der Verzicht hat soziale Konsequenzen. Es ist eine Art selbstgewähltes Eremitentum. Für die meisten ist es wichtig, einen eigenen Weg zu finden, wie sie sozial vernetzt bleiben, aber trotz ständiger digitaler Erreichbarkeit ihre persönlichen Prioritäten ungestört verfolgen können.

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