Dieses Jahr macht jede dritte griechische Orange den Umweg vom Baum über die industrielle Saftpresse, bis sie in der Schweiz landet. Und das nur, weil sie zu klein, zu stark vernarbt oder zu grün ist. Nur die schönsten gehen auf die Reise in den Norden. Sie schmecken zwar nicht besser, aber sie erfüllen die Norm der EU.

Für die Bauern im griechischen Nafplio ein existenzielles Problem. Denn für ein Kilo Topqualität erhalten sie gut 20 Cent, für Saftorangen 8 und weniger. «Ich persönlich bin überzeugt, dass 90 Prozent der Ernte der ersten Qualität entsprechen», so der Orangenbauer Yannis Chronis. Wenn er 9 von 10 Orangen zum höheren Preis verkaufen könnte, wäre er seine Sorgen los.

«Die kleineren schmecken noch süsser, selbst wenn sie Hautdefekte haben», meint Chronis’ Kollegin Olga Aggelena. Und Orangenexporteur Giorgios Stergiou glaubt gar: «Die Konsumenten haben genug von diesen Regeln der Supermärkte, die weder die Bauern noch die Natur respektieren.»

Wenn dem nur so wäre. Konsumenten kaufen meist diese prallen, leuchtenden Kugeln, die aussehen, als kämen sie aus dem 3-D-Drucker. Was nicht der Norm entspreche, bleibe im Laden liegen, behaupten die Grosshändler.

«Ein Fehlschluss», sagt Foodwaste-Spezialist Claudio Beretta, der an der ZHAW zum Thema forscht. Solange Konsumenten nur gut aussehende Normfrüchte vorgesetzt bekommen, kaufen sie nur die schönsten Früchte. Es ginge auch anders.

«Wenn die ganze Branche mitzieht, kann man alles verkaufen, was die Natur bietet.»

Claudio Beretta, Foodwaste-Spezialist an der ZHAW

So geschehen 2007 in England. Der Sommer ging im Regen unter, 40 Prozent der Kartoffeln verrotteten auf den Feldern. Statt aber die Lücken mit Importen zu füllen, erliess die Industrie laxere Normen. Und so landeten zu kleine, zu lange und krumme Kartoffeln in den Läden.

Was dann passierte? Nichts. Keine Reklamationen, gleich hohe Nachfrage. Die wenigsten realisierten, dass da etwas anders war.

«Wenn die ganze Branche mitzieht, kann man alles verkaufen, was die Natur bietet. Nicht nur in England», sagt Beretta. Mit weniger strikten Normen lasse sich der Anteil Foodwaste entscheidend verringern – und nebenbei das Einkommen der Bauern verbessern. Wie dieses Jahr bei den griechischen Orangenbauern um Yannis Chronis.

Positive Reaktionen auf unkonventionelle Orangen

Ihre Früchte gehen an die Schweizer Fair-Trade-Pionierin Gebana, die neu auch kleine, grüne, leicht vernarbte Orangen verkauft. «Wir hatten Angst vor negativen Reaktionen und legten den Früchten extra einen Flyer bei», erzählt Sandra Dütschler von Gebana. Es kam anders. Statt zu reklamieren, mailten die Kundinnen und Kunden begeistert Fotos der unkonventionellen Orangen.

Dass ausschliesslich Norm-Orangen in den Handel kommen, dafür sorgt Artikel 113a der EU-Verordnung (EG) Nr. 1234/2007. Danach muss die Farbe «sortentypisch» sein, und «maximal ein Fünftel der Schale» darf «hellgrün gefärbt» sein. Sie müssen mindestens 53 Millimeter Durchmesser haben und frei von starken Narben sein. Geschmack und Reifegrad sind keine Kriterien.

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Vor einem Jahr bat Gebana das Agrarministerium in Athen um eine Exportbewilligung, wurde aber nach Brüssel verwiesen. Die Reaktion dort: ein Verweis auf Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 543/2011, die Ausnahmebestimmung. Und der Tipp, die Orangen mit dem Vermerk «zur Verarbeitung» oder «zum persönlichen Verkauf» zu versehen. Dann gälten Spielregeln wie auf lokalen Bauernmärkten – nämlich gar keine.

«Die Bewilligung kam genau richtig», sagt Dütschler. 2020 war trocken, und die Orangen wurden nicht besonders gross. Hinzu kam, dass wegen des Lockdowns der Verkauf an Hotels, Restaurants und Kafeneons wegfiel. Eine wichtige Einnahmequelle für die Bauern.

60 Prozent weniger erhält ein Bauer für Orangen, die nicht der Norm entsprechen.

Ob die Schale leicht vernarbt ist, ist für die Frucht egal. Sie nimmt erst Schaden, wenn ihr Fleisch verholzt oder Schädlinge ins Fruchtfleisch vordringen.

Ob sie grün oder orange ist, spielt keine Rolle. Die Schalen verfärben sich orange, wenn das Thermometer ein paar Stunden unter 12, 13 Grad fällt. Deshalb sind Orangen in den Tropen grün und süss. Und: Einmal geerntet, reifen sie nicht nach.

Unnatürliche Reife «dank» Pflanzenhormon Ethylen

Doch das wissen nur wenige. Importeure entgrünen Orangen konsequent mit dem Pflanzenhormon Ethylen. Das zersetzt das grüne Chlorophyll und bringt die Carotinoid-Pigmente zum Strahlen.

Sinn der Gasdusche: Die Schale leuchtet orange. Dafür nimmt der Handel Nachteile in Kauf. Ethylen beschleunigt den Alterungsprozess, es können sich Fehlaromen bilden, die Frucht wird anfälliger für Pilzbefall, kritisierte der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer vor Jahren.

Verändert hat die Kritik wenig, sagt Foodwaste-Spezialist Beretta. «Ästhetik kann täuschen. Und schön ist nicht unbedingt gesund. Wenn ein Apfel perfekt glänzt, rot und gross ist, heisst das nicht, dass er gesund ist. Sondern dass Pestizide gespritzt wurden.»

Initiativen wie jene von Gebana begrüsst Beretta. Mit ihrer Botschaft sensibilisierten sie die Kundschaft. Es gebe auch andere Wege, um mehr nicht normierte Früchte und Gemüse in die Regale zu bringen: über ein differenziertes Sortiment. «Wir merken aber regelmässig, dass solche Initiativen von der Industrie grösser dargestellt werden, als die verkauften Mengen es zuliessen.»

«Es macht aus ökologischen Überlegungen wenig Sinn, qualitativ minderwertige Ware auf eine grosse Reise zu schicken.»

Marc Wer­melinger, Verband des Früchte-, Gemüse- und Kartoffelhandels

Migros und Coop setzen auf Vielfalt. «Mit unserer Eigenmarke Ünique bieten wir Früchte und Gemüse an, die aus der Norm fallen», sagt Coop-Sprecherin Melanie Grüter. So lasse sich Foodwaste vermeiden.

«Indem wir differenzieren, können wir besser auf die Anliegen der Produzenten vor Ort eingehen und ihnen praktisch die ganze Ernte abnehmen.» 2019 hat Coop 1250 Tonnen Ünique-Ware verkauft.

Die Migros kaufe Orangen aller Handelsklassen ein, sagt Sprecher Patrick Stöpper. Blondorangen der Klasse Extra seien entsprechend ausgelobt, Klasse 1 werde lose angeboten, Klasse 2 zusammen mit Klasse 1 im Netz. «Wir haben den Anteil akzeptierter zweiter Klasse im Netz vor einem Jahr von 10 auf 30 Prozent erhöht.»

Hohe Qualität als bestes Rezept gegen Foodwaste

Marc Wermelinger warnt davor, die EU-Norm zu verteufeln. Er ist der Kopf des Verbands des Früchte-, Gemüse- und Kartoffelhandels, bei dem alle dabei sind – von Migros bis Feldhofgemüse, von Coop bis Tobi Seeobst.

Die Orange sei keine einfache Frucht, der Verlust von Wasser ihr grösster Feind, und lange Transporte seien eine heikle Sache. «Es macht deshalb schon aus ökologischen Überlegungen wenig Sinn, qualitativ minderwertige Ware auf eine grosse Reise zu schicken. Das Risiko ist zu gross, dass schimmlige Orangen andere anstecken und man viele Früchte nach Ankunft im Verzehrland entsorgen muss.» Hohe Qualität sei das beste Rezept gegen Foodwaste und «die Formel ‹unbehandelt gleich besser› Mumpitz».

Qualität koste, auch in der Schweiz. So lag 2020 der Produzentenpreis für ein Kilo Tafeläpfel bei Fr. 1.– bis 1.10, für Mostäpfel bei 11 bis 15 Rappen. Die Preisunterschiede bei Orangen seien von daher noch gnädig.

Wichtig für Wermelinger: Ohne strenge Norm würde der Markt mit schlechter Ware geflutet und der Preis zerstört. «Die EU-Normen schützen letztlich die Produzenten vor Einnahmeverlusten und die Konsumentinnen vor schlechter Ware.»

Nur, unter Qualität versteht Wermelinger etwas anderes. Grüne, verformte und vernarbte Orangen, die genauso gut schmecken, gehören nicht dazu.

Den Orangenbauern Yannis Chronis und Olga Aggelena kann das egal sein. Gebana nimmt ihnen 95 Prozent der Ernte ab. Der Preis liegt bei 38 Cent plus 10 Prozent des Umsatzes im Schweizer Onlineshop. Macht drei- bis viermal so viel für die Bauern als die 20 Cent für Klasse-1-Orangen.

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