Die achtjährige Mira ist am liebsten draussen, klettert Bäume hoch und geniesst es, im Dreck zu matschen. Der siebenjährige Noah nimmt es lieber ruhiger. Er spielt zwar gern mit seinem Traktor, aber die Babypuppe und der Teddy sind immer dabei. So gar nicht «typisch Bub», wie Mira nicht «typisch Mädchen» ist.

Meist tritt aber in der Entwicklung auch eine Phase ein, wo das Kind den gängigen Klischees entspricht: Der Bub begeistert sich für Autos, Pistolen und Ritterrüstungen, das Mädchen will rosa Lackschuhe, Puppen und Schleifen im Haar.

Liegt das an den Genen? An der Erziehung? Oder verhalten sich Erwachsene im Umgang mit Mädchen anders als mit Buben? Wissenschaftler sind heute der Auffassung, dass die Persönlichkeit genauso von den Genen beeinflusst wird wie von der Umwelt und dem sozialen Input.

Eltern fördern unausgewogen

Immer wieder ist zu beobachten, dass Eltern den Töchtern mehr vorlesen und allgemein mehr mit ihnen kommunizieren als mit den Söhnen. Mit diesen toben sie eher herum, messen sich im Wettkampf. Dabei ist nicht klar, ob die Eltern unbewusst den verinnerlichten Rollenbildern folgen oder ebenfalls unbewusst auf die unterschiedlichen, vom Kind signalisierten Bedürfnisse der Geschlechter eingehen. Sie sind überzeugt, dass sie den Sohn gleich behandeln wie die Tochter.

Unbestritten ist, dass es zwischen den Geschlechtern biologisch festgelegte Unterschiede gibt. Vererbung spielt eine Rolle, aber auch andersartige Hirnstrukturen und geschlechtsspezifische Hormone.

«Das Gehirn von Jungen geht leicht ins Extrem.»

Reinhard Winter, Pädagoge und Geschlechterforscher

Schon vor der Geburt entwickeln sich die Gehirne aufgrund der Konzentration des Hormons Testosteron unterschiedlich. «Im Durchschnitt hat das zur Folge, dass das Jungengehirn etwas weniger gleichmässig abgestimmt ist», erklärt der deutsche Pädagoge Reinhard Winter. «Das Jungengehirn harmonisiert weniger und geht leichter ins Extrem. Vielleicht sind Jungs auch deshalb bisweilen impulsiv. Was Mädchen mit der Sprache machen, machen Jungs eher in ihrem Verhalten.»

Fazit: Es gibt Unterschiede bei den Vorlieben und den Bedürfnissen von Jungen und Mädchen. Um diesen gerecht zu werden, braucht es seitens der Eltern eine überlegte und gezielte Förderung. Letztlich geht es um Ausgewogenheit. Und dabei die Mädchen auch mal Mädchen sein zu lassen und die Buben Buben.

Wie fördert man die Tochter?
  • Lassen Sie die Tochter sich austoben: Das fördert die motorischen Fähigkeiten, stärkt das Selbstbewusstsein und hilft ihr, Kräfte besser einzuschätzen. Ermutigen Sie das Mädchen ganz gezielt dazu.
  • Trauen Sie der Tochter etwas zu: Eltern neigen dazu, ein Mädchen stärker zu beschützen und ihm Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Erlauben Sie der Tochter, eigene Erfahrungen und Fehler zu machen. Nur wer selbst etwas geleistet hat, entwickelt Stärke und Selbstvertrauen.
  • Zeigen Sie der Tochter, dass sie etwas bewirken kann: Räumen Sie ihr möglichst viel Mitspracherecht ein. Lassen Sie sie selber entscheiden, ob sie lieber Hose oder Rock anziehen will.
  • Lassen Sie Aggressionen zu: Mädchen dürfen wütend werden, schreien, mal aus dem Zimmer laufen und die Tür zuknallen. Aggressionen sind ganz normal. Wut ist ein Gefühl wie jedes andere und darf ausgelebt werden, solange dabei niemand Schaden nimmt.
  • Unterstützen Sie handwerkliche und technische Erfahrungen: Nehmen Sie die Tochter mit, wenn Sie etwas in Werkstatt, Haus oder Garten erledigen. Besuche im technischen Museum und der Umgang mit Werkzeugen, Bau- und Technikkästen eröffnen Perspektiven.
  • Fördern Sie die räumliche Wahrnehmung: Buben haben meist eine bessere räumliche Vorstellungskraft und deshalb später mehr Flair für technische Abläufe. Trainieren Sie die Raumwahrnehmung, etwa mit Such- und Zuordnungsspielen.
  • Unterstützen Sie die Tochter bei einem Streit: Mädchen neigen dazu, mehr zu schlucken als Buben, um die Freundschaft oder die Anerkennung anderer nicht zu verlieren. Zeigen Sie ihr, wie sie, ohne zu prügeln, für ihre Wünsche und Ansichten eintreten kann. Sie wird so lernen, sich durchzusetzen und Konflikte allein zu lösen. Auch ein Selbstverteidigungskurs speziell für Mädchen ist ab etwa fünf Jahren denkbar.
Wie fördert man den Sohn?
  • Buben brauchen mehr männliche Rollenvorbilder: Gerade in den ersten Lebensjahren haben Kinder überwiegend Kontakt zu Frauen. Als Ausgleich ist der Papa besonders wichtig. Bei Alleinerziehenden können auch Grosspapi, Onkel oder der Trainer eines Fussballvereins die Position des männlichen Rollenvorbilds einnehmen.
  • Akzeptieren Sie die Freunde des Sohnes: Auch wenn er sich die grössten Draufgänger ausgesucht hat: Er erlebt sie vielleicht gerade als «typisch männlich» und will deshalb so sein wie sie.
  • Spielen Sie als Vater so viel wie möglich mit dem Sohn: Väter sind weniger vorsichtig als Mütter, sorgen für mehr Abwechslung, fördern den Entdeckergeist. Ganz toll finden es kleine Buben, wenn sie dem Papi helfen dürfen. Sie möchten an seinem Leben teilhaben.
  • Machen Sie dem Sohn klar, wie man Konflikte friedlich löst: Auch wenn kleine Buben «echt stark» sein wollen und gern raufen, müssen sie lernen, Streitereien ohne Fäuste auszutragen. Bringen Sie dem Kind das kleine Einmaleins der Kommunikation bei: aufmerksam zuhören, andere ausreden lassen, interessierte Fragen stellen.
  • Fördern Sie gezielt das Sprachvermögen: Diskutieren Sie, lesen Sie vor, kreieren Sie mit dem Sohn Reime und Wortspiele.
  • Trainieren Sie Feinmotorik mit ihm: Mädchen zeigen sich mit den Händen oft geschickter. Basteln und malen Sie mit ihm. Ermuntern Sie ihn, Dinge aufeinanderzustapeln oder Perlen aufzufädeln.
  • Leiten Sie ihn an, sich in andere einzufühlen: Mädchen können die Gefühle anderer leichter einordnen. Mit etwas «Nachhilfe» schaffen das auch Buben. Man kann etwa mit Stofftieren oder Puppen Situationen gestalten, die den Sohn erkennen lassen, dass jemand traurig ist. Kann er den Grund des Kummers nachvollziehen? Kann er trösten?
  • Erklären Sie, dass Buben dieselben Gefühle haben wie Mädchen: Diese aber üblicherweise nicht so zeigen.
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Wie verhalten sich Mädchen und Jungen während der Pubertät? Welche Erfahrungen und körperlichen Veränderungen durchleben sie in dieser Zeit? Beobachter-Abonnenten finden in der Checkliste «Pubertierende Jugendliche» Rat zu diesen und weiteren Erziehungsfragen.

Buchtipps
  • Melitta Walter: «Jungen sind anders, Mädchen auch»; Verlag Kösel, 2005, 240 Seiten, CHF 23.90. Hier bestellen
  • Reinhard Winter: «Jungen. Eine Gebrauchsanweisung»; Verlag Beltz, 2014, 280 Seiten, CHF 23.90. Hier bestellen