Antwort von Koni Rohner, Psychotherapeut FSP:

Mein Ratschlag lautet wie immer in unklaren Liebesdingen: Besser ein allfälliges Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Sagen Sie, dass Sie sich verliebt haben, und fragen Sie klar und mutig nach den Gefühlen der Frau. Erst wenn die Karten auf dem Tisch liegen, ist eine vernünftige Entscheidung möglich. Falls Ihr Schwarm allerdings mit Ihnen bewusst oder unbewusst spielt, wird er mit allen Mitteln versuchen, eine klare Stellungnahme zu vermeiden. Sie müssen also hartnäckig und konsequent sein.

Unglücklich verliebt zu sein kann jedem Mann und jeder Frau passieren. Es kommt immer wieder vor, dass die Gefühle einseitig verteilt sind. Was Sie jedoch schildern, ist ein häufiges, ja geradezu klassisches Muster. Genau diese Konstellation taucht nämlich immer wieder in Sagen, Mythen, Geschichten und Filmen auf: die verführerische Frau, die lockt, aber nie erreicht werden kann.

Sehnsucht und Verderben

Sehr oft zieht sie die Männer nicht nur an, sondern ins Verderben oder sogar in den Tod. «Männer umschwirrn mich wie Motten das Licht, und wenn sie verbrennen, ja, dafür kann ich nichts», singt Marlene Dietrich im Film «Der blaue Engel», in dem ein alternder Professor ihr Opfer wird.

Die Sage von der Loreley berichtet von einer wunderschönen Frau, die oben auf einem Rheinfelsen sitzt und ihr goldenes Haar kämmt, so dass es die Schiffer mit «wildem Weh» ergreift und sie gebannt in die Höhe schauen müssen. «Ich glaube, am Ende verschlingen die Wellen Schiffer und Kahn, und das hat mit ihrem Singen die Loreley getan», hat Heinrich Heine dazu gereimt.

In einem Gedicht von Eduard Mörike sitzt eine Zauberin in einem Leuchtturm, die das Licht löscht, wenn sich ein Schiff genähert hat, damit es in den Klippen zerschellt. Loreley-artige Frauen strahlen etwas animalisch Verführerisches aus – aber zugleich ist eine lebendige Beziehung mit ihnen nicht möglich.

Dieses Muster, das die Kultur so sehr befruchtet hat – der ganze Minnesang des Mittelalters beruhte darauf, dass der Sänger seine Herrin nie wirklich in die Arme schliessen durfte –, ist aus psychotherapeutischer Sicht neurotisch. Eine verführerische Ausstrahlung hat nur dann einen Sinn, wenn es auch zu einer Verbindung kommt, die emotionale und sexuelle Sättigung ermöglicht. Sonst ist es Quälerei. Das Kernproblem beim Loreley-Syndrom ist, dass beide Partner Angst vor einer handfesten Beziehung haben. Einerseits weil sie um ihre Freiheit bangen und anderseits weil sie Angst vor der Intensität der Sexualität haben. Wer verführt, aber sich nicht einlässt, wer sich locken, aber zugleich zurückstossen lässt, ist davor «geschützt», eine nahe Begegnung zu haben.

Loreley war wohl enthaltsamer

Oft haben Menschen mit dem Loreley-Syndrom übrigens ein äusserst attraktives Äusseres, und natürlich sind sie im Flirten ausserordentlich begabt. Allerdings leben sie selten so enthaltsam wie die Loreley auf ihrem Felsen – in der Regel haben sie häufig wechselnde, kurze Beziehungen. Längere Verbindungen würden sexuelle Probleme und solche der Abgrenzung zum Vorschein bringen.

Wer lange genug geschwärmt, gedichtet und gelitten hat oder darüber beunruhigt ist, dass nie längere und intensivere Beziehungen zustande kommen, tut gut daran, sich in einer Psychotherapie mit seinen versteckten Ängsten zu beschäftigen. Es geht natürlich nicht darum, gleich am ersten Abend einer Bekanntschaft unbedingt eine sexuelle Begegnung zu haben. Es ist im Allgemeinen wohl schöner, die Verliebtheit, das Begehren und die Sehnsucht eine Weile zu spüren, bis man sich gegenseitig erlöst. Aber nur gelockt werden oder locken ohne Erfüllung mag zwar für Dichter und Denker befruchtend sein – für gewöhnliche Sterbliche ist es eine unsinnige Tortur.