Leserfrage: «So habe ich mir das Familienleben nicht vorgestellt: Stress, Erschöpfung und getrennte Betten. Was hilft?»

Zwei Menschen, die sich lieben, tun sich zusammen. Die Liebe reicht für mehr als zwei – und so entsteht eine Familie. Geplant oder ungeplant, die Geburt des ersten Kindes empfinden die meisten Eltern als tiefgreifenden existenziellen Flow. Wenn sie mit feuchten Augen am Bettchen ihres Neugeborenen sitzen und überwältigt sind vom Wunder neuen Lebens, wollen sie es auf Händen tragen, es liebevoll wachsen und werden lassen.

Jahre später, im Zentrum von Chaos, Lärm und Überforderung, möchten sie manchmal vor allem eins: dass es sein Zimmer aufräumt, endlich die Klappe hält und gehorcht. Dafür schämen sie sich dann, weil sie es ja richtig machen wollen und plötzlich genauso klingen wie damals die eigenen Eltern.

Beides sind Pole der lebenslangen Beziehung zwischen Eltern und Kindern.

Was passiert nun während dieser langen gemeinsamen Reise, dass aus Zuneigung Feindseligkeit, aus Sinnlichkeit und Lebendigkeit Pflicht, Stress und leere Rituale werden?

Grundsätzlich sollte Familie möglichst ein Ort sein, wo man so sein darf, wie man ist. Wo die zentralen Bedürfnisse aller wahrgenommen und respektiert werden, auch wenn es ab und zu für jeden Abstriche gibt. Wo jeder Raum hat als eigenständiges, einzigartiges Wesen.

Vorübergehend im Zentrum

Natürlich stellen Eltern ihre Bedürfnisse zurück, wenn die Kinder klein sind und für fast alles Unterstützung und Begleitung brauchen. Für kurze Zeit ist es notwendig und richtig, dass sich alles ums Kind und seine Befindlichkeit dreht.

Aber: Genauso wichtig wie dieser gigantische Verzicht der Eltern darauf, Priorität im eigenen Leben zu haben, ist seine begrenzte Dauer.

Es braucht unbedingt die schrittweise Rückkehr der Erwachsenen in ein Leben, in dem die Kinder eine wichtige Rolle spielen, aber nicht der Nabel der Welt sind.

Dieser Wechsel fällt manchen Eltern schwer. Das Kind bleibt im Zentrum, alles dreht sich nur um seine Bedürfnisse und sein Potenzial. Die Eltern nehmen, was übrig bleibt – und selbst das mit schlechtem Gewissen.

«Es braucht Raum für Intimität und Zeit zu zweit. Ohne Kinder und mit Spass.»

Christine Harzheim, Psychologin und systemische Familientherapeutin

Kinder können sich gegen diese ihnen zugewiesene Rolle kaum wehren. Sie nehmen sie an und werden dann oft als fordernd und tyrannisch beschrieben. Dabei sehnen sie sich in ihren Kinderherzen danach, einfach nur ein kleines, geliebtes Rädchen im Familiengetriebe zu sein, mit weniger Bedeutung und weniger Verantwortung. Und nach Eltern, die sich gut genug um sich selbst kümmern, sich gernhaben und gelassen vorangehen.

Wenn man die Familienphase nicht nur als Eltern-, sondern auch als Liebespaar überstehen will, braucht es Raum für Intimität und gemeinsame Zeit. Ohne Kinder und mit Spass. Wenn die Erwachsenen in der Familie den Ich-Raum oder den Paar-Raum verwahrlosen lassen, weil die Kinder so viel brauchen, weil der Alltag so viel fordert und weil man immer alles optimieren will, gefährdet dies das Familienglück.

Frust, Lieb- und Freudlosigkeit sind die Folge. Man tankt nicht mehr auf, kommt nicht mehr zur Ruhe und verausgabt sich. Statt lebendigem Miteinander wird zähneknirschend ein Alltag verwaltet, der nur nach vorn drängt, ohne entspanntes Innehalten.

Der Teufelskreis

Kinder spüren diese Überlastung der Eltern und reagieren darauf oft mit schlechtem Schlaf oder auffälligem Verhalten. Was wiederum den Alltag explosiver und noch anstrengender werden lässt.

Wenn eine Familie in solch einen Teufelskreis geraten ist, empfiehlt sich eine Paar- oder Familienberatung. Hier kann man mit Unterstützung schauen, wer was braucht, damit die Balance zwischen ICH und WIR und WIR ALLE wieder ins Lot kommen kann.

Bevor es so weit kommt: Wenn Sie Eltern werden, «opfern» Sie sich – aber nur auf Zeit. Mit jedem Schritt, den das Kind eigenständiger wird, kehren Sie ein Stückchen zurück zu sich selbst. Nehmen Sie praktische Hilfe an, die Ihnen regelmässig eine kleine Auszeit schenkt. Egal, ob Yoga oder Biergarten.

Und: Pflegen Sie die Paarbeziehung! Spätestens wenn die Kinder sich pubertätsbedingt abwenden oder zum Angriff übergehen, brauchen Sie einander! Haben Sie Spass, geniessen Sie das Leben zu zweit. Das kommt nicht nur Ihnen zugute, sondern vor allem auch den Kindern.

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