Ein grauer, grosser, altehrwürdiger Bau aus dem Jahr 1905 - das Allee-Schulhaus im Zentrum von Wil SG sieht aus wie eine klassische Erziehungsstätte. Über dem Eingangstor prangt auf goldenem Hintergrund die Inschrift: «Unserer Jugend». Doch hinter der altertümlichen Fassade findet die Schule der Zukunft statt: Nicht die Lehrer geben den Takt an, sondern die Schüler.

Augenschein im Fach «Mensch und Umwelt»: «Das System Teich» steht auf dem Programm von Lehrerin Sandra Gehrer Andreoli. Ein Zehnjähriger geht zielsicher zu einem zwei Köpfe grösseren Kameraden und fragt ihn, ob er ihm schnell helfen könne. Dieser nickt, nimmt sein Heft und erklärt seinem jüngeren Mitschüler, wo er noch mehr Informationen über Lurche findet. Konzentriert und ruhig arbeiten 20 Viert- bis Sechstklässler in Kleingruppen, viele am Computer. Während sich die Kollegen ums Tierleben am Teich kümmern, holt ein Schüler einen Mathe-Test nach; auch das geht. Die Lehrerin schmunzelt: «So ruhig ist es nicht immer. Aber es gibt genug Rückzugsmöglichkeiten, wenn es jemandem zu viel wird.»
Hier passiert, was in der heutigen Schweizer Schullandschaft die rare Ausnahme ist: altersunabhängiges Lernen. Das wegweisende Wiler Modell beruht auf dem Projekt «Prisma», das 1997 etabliert wurde (siehe «‹Prisma›: Eine Idee macht Schule» am Ende des Artikels). 15 Lehrpersonen unterrichten 156 Primarschüler, von denen jeweils Erst- bis Drittklässler sowie Viert- bis Sechstklässler zusammen im selben Raum sitzen. Statt frontalen Einheitsunterrichts für Gleichaltrige gibts Förderung à la carte.

Gross, hell, ein Kreis in der Mitte, zu Vierergruppen angeordnete Pulte an den Wänden, zuhinterst ein runder Gruppentisch, darüber ein Hochboden mit farbigem Geländer: Die Zimmer im «Allee» bieten viel Platz und ruhige Ecken. Eine Schülerin hält eine kleine Tafel in die Höhe, auf der steht, dass sie Hilfe braucht. Andere tun es ihr nach. Lehrerin Sandra Gehrer Andreoli sammelt die Täfelchen ein und geht sie der Reihe nach durch. «Anders funktioniert das nicht in einer Mehrklasse, wo jedes Kind an etwas anderem arbeitet», erklärt sie.

Natürlich fordere diese Methode des Unterrichtens die Lehrerin stark, sie müsse jeden Schüler sehr gut kennen, um zu wissen, wer welche Unterstützung brauche. «Doch auch die Eigenverantwortung der Kinder ist gross», so Gehrer Andreoli. «Sie müssen ihre Bedürfnisse von sich aus anmelden.» Dabei gilt die Regel, dass zuerst die älteren Schüler den jüngeren zu helfen versuchen, bevor die Lehrperson gerufen wird. Ein Geben und Nehmen, das die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten der Kinder fördern soll. Auf dem Lehrplan steht jeweils für alle dasselbe Thema, je nach Entwicklungsstand der Kinder sind aber die Anforderungen des Schulstoffs ganz unterschiedlich.

Die Unterrichtsform, wie sie im Wiler Quartierschulhaus modellhaft praktiziert wird, findet sich als Eckpfeiler auch im Harmos-Konkordat wieder, dem Abkommen zur «Harmonisierung der obligatorischen Schule Schweiz», das ab 2009 mit dem vom Kantönligeist geprägten Flickwerk der Volksschule aufräumen will. Die Freiburger Regierungsrätin Isabelle Chassot, Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz, bestätigt: «Ein individuelleres Lernen ist ein zentrales Postulat von Harmos. Entsprechend seinen Lernfortschritten soll ein Kind die einzelnen Schulstufen schneller oder langsamer absolvieren können.»

Kein Laborversuch

Nach Ansicht von Experten erleichtert die Altersdurchmischung das flexible Durchlaufen der Schule. «Das starre Prinzip der Jahrgangsklassen muss aufgebrochen werden», fordert der Zürcher Bildungsforscher Urs Moser. Und dies nicht etwa als Notlösung wie in Randregionen mit geringen Schülerzahlen, sondern als bewusst gewählte pädagogische Grundhaltung. Altersunabhängiges Lernen erlaubt einen besseren Umgang mit der Heterogenität in der Gesellschaft: Kinder mit unterschiedlichen Entwicklungsständen, Lernfähigkeiten, familiären und kulturellen Hintergründen sollen integriert statt voneinander getrennt werden. «Eine Schule, die zu stark aussondert, macht etwas falsch», sagt Moser mit Blick auf Statistiken, wonach heute in einzelnen Kantonen bis zu zehn Prozent der Kinder in Sonderklassen stecken. Stütz- und Förderangebote brauche es weiterhin, macht der als «Mister Pisa» bekannte Wissenschaftler klar. Doch müssten sie auf ein vernünftiges Mass gestutzt und wenn möglich mit dem Normalunterricht verknüpft werden.

Dass dies funktioniert, zeigt das Projekt in Wil nachdrücklich. Denn «Prisma» wird nicht isoliert in einer Laborsituation getestet, sondern ist seit zehn Jahren im prallen Schulleben erprobt: Das «Allee» ist eine normale Volksschule, die ohne finanzielle oder andere Bevorzugungen die regulären Lehrpläne erfüllen muss. Es liegt in einer Schweizer Durchschnittsgemeinde mit den Merkmalen eines regionalen Zentrums; so beträgt der Anteil der fremdsprachigen Schüler über 50 Prozent. «Diese Realitätsnähe ergibt besonders aussagekräftige Erkenntnisse», sagt Jürg Sonderegger, Rektor der Pädagogischen Hochschule Rorschach SG. Ihm gefällt, dass die Wiler ein Modell mit eigenständigem Profil entwickelt haben und dieses einer ständigen Qualitätskontrolle unterziehen. Dazu gehören - wegweisend in einer Schulkarriere - die Erfolgsquoten beim Übertritt von der Primar- in die Oberstufe: Pro Jahrgang schaffen zwei Drittel der Schüler den Sprung in die Sekundarschule (Stufe A) oder ins Gymnasium, das liegt trotz dem hohen Fremdsprachigenanteil über dem kantonalen Mittel.

Wird in der St. Galler Provinz vorweggenommen, was in der Volksschule dereinst Standard sein wird? «In wichtigen Teilbereichen auf jeden Fall», so Sonderegger: Die Umsetzung des individualisierten Lernens, der partnerschaftliche Umgang sowie die Instrumente der Schüler- und Elternmitwirkung seien «vorbildlich».

Die Protagonisten sind gefordert

Also: kopieren und vervielfältigen? So einfach ist das nicht. Denn das Wiler Modell hat einen zehnjährigen Erfahrungsvorsprung. Und die Essenz daraus ist klar - bevor das System Schule künftigen Anforderungen gerecht werden kann, müssen sich auch seine Protagonisten weiterentwickeln:

  • Die Lehrpersonen: «Einzelkämpfer haben keinen Platz mehr», bringt es Bildungsforscher Urs Moser auf den Punkt. Die Lehrer der Zukunft müssten sich verstärkt darüber klar sein, dass der Schulunterricht keine Privatsache sei, sondern eine grundlegende Aufgabe in der Gesellschaft. «Das erfordert Transparenz nach aussen und die Fähigkeit zur Teamarbeit, was nicht als Machtverlust verstanden werden darf.» Heidi Gehrig, die Initiantin von «Prisma», bestätigt das neue Bild der eigenen Zunft: «Damit eine Schulform wie die unsrige funktionieren kann, braucht es offene Leute, die einander ernst nehmen und sich für die gemeinsame Sache engagieren», sagt sie. Zu Beginn des Projekts wurde diese Profiländerung in einem schulgemeindeinternen Wahlverfahren durchgezogen: «Allee»-Lehrer, die sich mit den neuen Methoden nicht voll identifizieren konnten, mussten in ein anderes Schulhaus wechseln. «Eine schwierige Erfahrung, die bis heute nachwirkt», sagt Gehrig.
  • Die Schüler: «Sie müssen wieder lernen, zu lernen» - das ist laut Urs Moser die Hausaufgabe. Ausdauer und Eigenverantwortung seien dabei zentral. Nicht immer einfach, wie Basil Hürzeler einräumt, der das Allee-Schulhaus durchlaufen hat und heute in der Sek wieder Frontalunterricht alter Schule über sich ergehen lassen muss. Im «Prisma»-Modell ist er bisweilen an die Grenzen des eigenverantwortlichen Lernens gestossen: «Manchmal kommt man allein einfach nicht weiter», so der 14-Jährige. «Das blockiert.» Gut sei aber gewesen, dass man immer in seinem eigenen Tempo arbeiten konnte. Dem pflichtet der 13-jährige Pepino Keller, heute Realschüler, bei. Ihm hat auch das altersunabhängige Lernen geholfen, eigene Defizite auszugleichen: «Wenn du den Kleinen hilfst, repetierst du den Stoff automatisch. So bleibt er besser hängen.»
  • Die Eltern: Urs Moser liefert den Schlüsselbegriff wie auf Knopfdruck: «Mitwirkung ist Pflicht! Die Eltern haben in der Schulbildung ihrer Kinder eine Rolle, die sie nicht länger wegdelegieren können.» Im Allee-Schulhaus wird diesem Postulat auch mit symbolischen Details auf die Sprünge geholfen: Statt «Lehrerzimmer» heisst es «Teamzimmer» - Eltern können dort jederzeit hinein. Angela Pecora Schäppi, Mutter zweier Buben mit je sechs «Allee»-Jahren, hat dies öfter getan, und nie ist sie sich als Störenfried vorgekommen: «Man hat mir nicht einfach nur höflich zugehört, sondern sich echt für meine Ansichten interessiert.» Diese gegenseitige Akzeptanz sei die Basis dafür, auch in schwierigen Situationen eine gute Lösung zu finden - etwa bei Lernproblemen der eigenen Kinder.
  • Die Schulbehörden: «Ihr Platz ist auf der Steuerbrücke», gibt Bildungsforscher Urs Moser den Kurs vor. «Je weniger sie operativ eingreifen, umso besser.» Auch Marlis Angehrn, die Wiler Schulratspräsidentin, hält es für unabdingbar, Kompetenzen nach unten zu delegieren: «Die einzelnen Schulhäuser müssen die grösstmögliche Freiheit haben, sich innerhalb der von der Behörde gesetzten Leitplanken zu bewegen.»



Nicht nur eitel Sonnenschein

Der Weg, den man im «Allee» eingeschlagen hat, stösst in der Branche auf reges Interesse. Regelmässig kommen Delegationen von Lehrpersonen zu Besuch, um sich ein Bild zu verschaffen. Im letzten November gab es eine Würdigung von dritter Seite: Das Schulmodell «Prisma» erhielt den Pestalozzipreis 2006, eine alle zwei Jahre von Trägern wie Pro Juventute oder Unicef vergebene nationale Auszeichnung für besonders kinderfreundliche Lebensräume.

Solcherlei Anerkennung tut gut, daran lässt Heidi Gehrig, bis letzten Sommer Schulleiterin und Motor des Projekts, keinen Zweifel. Denn es herrscht nicht nur eitel Sonnenschein im Allee-Schulhaus - die Pionierrolle hinterlässt ihre Spuren: «Die Einführung von so etwas grundlegend Neuem braucht sehr viel Kraft und Zeit. Und Ressourcen. Daran mangelt es uns bis heute», so die 51-Jährige. Die besondere Unterrichtsform sei sehr zeitintensiv für die Lehrer. Für Jürg Sonderegger von der Pädagogischen Hochschule Rorschach ist damit die eigentliche Herausforderung für die Schule der Zukunft angesprochen: «Ein solches Modell lebt vom überdurchschnittlichen Engagement der Beteiligten», sagt er. «Da ist die Frage zentral: Wie gehen wir mit unseren Ressourcen um?»

«Mister Pisa» weiss die Antwort. Es könne nicht immer mehr von den Lehrpersonen verlangt werden, ohne die Rahmenbedingungen zu verbessern, betont Urs Moser. «Für einen modernen Unterricht, wie wir ihn uns wünschen, braucht es mehr Lehrer pro Klasse als heute. Das kostet.» So fordert er, dass unter dem Stichwort Bildung endlich nicht nur in Hochschulen und in die Forschung investiert werde, sondern gezielt auch in die Volksschule: «Schliesslich liegt dort die Basis für alles Weitere.»

«Unserer Jugend», prangt schon seit über 100 Jahren am Allee-Schulhaus - eine pathetische Inschrift. Dank «Prisma» bekommt sie eine Bedeutung, über die die Gründer der Schule nur staunen könnten.

Quelle: Stefan Kubli

«Prisma»: Eine Idee macht Schule

  • Das Primarschulhaus Allee ist eine von acht öffentlichen Schuleinheiten in Wil SG (17'000 Einwohner). Zurzeit gehen dort 156 Kinder zur Schule; der Anteil der Fremdsprachigen liegt bei 53 Prozent. Das Lehrerteam der geleiteten Schule setzt sich aus 15 Personen zusammen.
  • Inspiriert von einem «Weltwoche»-Artikel, greift die Lehrerin Heidi Gehrig Ende 1992 die Idee auf, im «Allee» eine individualisierende Gemeinschaftsschule zu schaffen. Der Grundpfeiler dieses pädagogischen Konzepts ist das altersunabhängige Lernen mit gemeinschaftsfördernden Unterrichtsformen.
  • Die Idee wird zum Schulentwicklungsprojekt «Prisma» konkretisiert. Der Name steht für den Leitgedanken, die Verschiedenartigkeit der Schülerinnen und Schüler in Bezug auf Entwicklungsstand, Lernfähigkeit und kulturellen Hintergrund als Chance für den Lernerfolg zu nutzen.
  • Im Januar 1996 gibt der Schulrat Wil grünes Licht für die Umsetzung.
  • Im Schuljahr 1997/98 wird die neue Schulform samt ihren Instrumenten zur Mitwirkung (Klassenrat, Vollversammlung, Elternstamm) eingeführt.
  • Im November 2006 erhält das Allee-Schulhaus den Pestalozzipreis.