Svenja war im Krippenspiel mal ein Engel. Lenard ein Hirte. Und Anaïs, die Älteste, hat zu Ostern auch schon Eier versteckt. Das wärs dann aber schon fast gewesen mit den quasi-religiösen Erfahrungen der drei Jugendlichen. Sie sind nicht getauft. Sie beten nicht. Und in die Kirche gehen sie nur, wenn das von ihnen erwartet wird. Aber das wird es selten. «An Weihnachten, wenn wir bei der Tante in Deutschland sind. Sie ist ziemlich gläubig», sagt Svenja. Anaïs will nicht ausschliessen, dass es allenfalls etwas Höheres gibt. Wirklich zu beschäftigen scheint sie die Frage aber nicht. Ihr Bruder, 17, ein Jahr jünger als Anaïs, siehts nüchtern: «Ich glaube an die Schwerkraft. An das, was ich sehe, nicht an was Übernatürliches.» Nach dem Tod wird das Licht gelöscht. Fertig. Oder einfach geschlafen. «Ewig schlafen ohne Träumen», glaubt die 15-jährige Svenja. Sie findet die Vorstellung schön: «Ich schlafe gerne.»

Nur jeder fünfte Jugendliche im Land glaubt fest an Gott oder an etwas Göttliches, wie aus einer eben erschienenen Nationalfondsstudie hervorgeht. Die breite Mitte ist hin- und hergerissen. Svenja, Lenard und Anaïs gehören zu den 15 Prozent, die gar nicht glauben. In den letzten 40 Jahren ist die Zahl der Konfessionslosen in der Schweiz von 1 auf heute rund 25 Prozent gewachsen. Die Eltern von Svenja, Lenard und Anaïs gehören dazu.

Kindheit in der religiösen Zwangsjacke

Während seine Kinder – eines leiblich, die beiden anderen von seiner Lebenspartnerin in die Beziehung gebracht – über ihren Glauben reden, atmet Herbert Blaser schwer. Blaser, ein Bär von einem Mann, wirkt dann wie ein geschlagener Hund. Das Thema geht ihm an die Nieren. Er hat in seiner Kindheit die teuflische Seite des Glaubens kennengelernt, wie er sagt. Von der Mutter aus finanzieller Not abgegeben, wächst er als Verdingbub auf einem Hof im Emmental auf, unter der Obhut seiner Grosseltern. Evangelikale Eiferer. Mitglieder der lokalen Pfingstgemeinde. Frömmler. Seine Grossmutter sieht in ihm das Medium mit dem Draht nach oben. Wenn jemand krank wird im Dorf, wird der kleine Herbert zum Gesundbeten beordert. Wenn er etwas anstellt, muss er beichten. Ständig sitzt ihm der Teufel im Nacken. «Egal, was ich tat, immer war da die Angst, ich könnte mich versündigen.» Nach der Lehre als Goldschmied bricht er aus. Will auf Weltreise. Läuft ohne Geld aber schon in Frankreich auf, landet in der Fremdenlegion und später, zurück in der Schweiz, wegen Hanfhandel im Gefängnis. Noch vor fünf Jahren trug Herbert Blaser am Familientisch eine Fussfessel. «Heute bin ich frei», sagt er. Und das Wort bedeutet ihm viel, gerade auch in religiösen Belangen. Auch wenn längst nicht alle Wunden verheilt sind.

Hat Herbert Blaser – er, der sich als Opfer von religiösem Übereifer sieht – seinen Kindern keine Wahl gelassen? Durften sie nicht glauben? «Nein», sagt Svenja. Ihre Eltern hätten sie doch gerade darum nicht getauft: Sie wollten, dass sie später selber entscheiden dürfen, wie und an was sie glauben wollen. «Und heute glauben wir ans Leben», sagt Lenard – und muss selber ein wenig schmunzeln über so viel Philosophie am Familientisch. Dabei meint er es durchaus ernst. «Es war einfach nie ein Bedürfnis da, religiös irgendetwas anderes auszuleben, zu beten oder in die Kirche zu gehen.» Aber sie, die Kinder, Opfer einer antireligiösen Gehirnwäsche? «Sicher nicht.»

Denn da ist ja auch noch die leibliche Mutter von Svenja und Lenard, Sabine Dettwiler. Als Tochter des «Schluuch»-Wirts – der «Schluuch» ist eine legendäre Basler Altstadtbeiz – wuchs sie im Kleinbasler Milieu auf. «Bei uns haben alle Schichten verkehrt: hinten die Prostituierten, vorne der Regierungsrat.» Ob Gross- oder Kleinbasler, in den «Schluuch» gingen sie alle, «go ne Stange tringge oder Lääberli ässe». Dieses Weltoffene hat Sabine Dettwiler geprägt: «Es muss viel erlaubt sein im Leben», sagt sie.

Glaubensfragen nicht ausgeklammert

Das Thema Religion ging an Sabine Dettwiler, die als das jüngste von drei Kindern aufwuchs, eher spurlos vorüber. Keine Kirchenbesuche, kein Beten – allenfalls ein «Ich ghöre es Glöggli» zum Einschlafen, aber nur, weil es so schön klang. Ende Schulzeit liess sie sich mit Erlaubnis der Eltern vom Religionsunterricht dispensieren. Später trat sie aus der Kirche aus. Als Mensch suche sie immer die liberale Mitte, sagt Sabine Dettwiler. Alles Extreme stosse sie ab – «weil das Extreme immer das Andere ausschliesst». Die Biographie ihres Mannes, Herbert Blasers Kindheit in der religiösen Zwangsjacke, habe sie in ihrem Weltbild bestätigt. Heute glaubt sie, «dass es wichtig ist, dass der Mensch im Einklang mit sich, seinen Mitmenschen und mit der Natur lebt». Und was hat diesen Glauben geprägt? «Das Leben.»

Nichtgläubige Eltern könnten glauben, just ihre areligiöse Erziehung könnte die Kinder auf den Geschmack bringen und sie in die Fänge von esoterischen oder ultrareligiösen Eiferern treiben – nach dem Motto: Erst was verboten ist, wird richtig interessant. Sabine Dettwiler und Herbert Blaser haben diese Befürchtung nicht. «Weil wir das Thema nicht ausgeklammert haben. Wenn Glaubensfragen kamen, haben wir diese offen zu beantworten versucht. Und wir haben unsere Haltung erklärt – und zwar unsere Haltung, die nicht zwingend diejenige der Kinder sein muss», so Sabine Dettwiler. Nie hätten sie ihren Kindern das weihnachtliche Krippenspiel verboten oder die Teilnahme am Religionsunterricht. «Nie!» Und als bräuchte die Mutter ihre Rückendeckung, meint Svenja: «Ich habe den Religionsunterricht gar nicht schlecht gefunden. Ich ging freiwillig hin, weil es mich interessiert hat.» Schliesslich lebe sie mit den verschiedenen Religionen auf einer Welt. Also sollte sie auch etwas darüber wissen.

«Ich habe auch meine schlechten Seiten»

Und war der Familie an Weihnachten nach einem Christbaum, einfach der Stimmung wegen, gab es einen Christbaum. Und wenn die Grossmutter darunter Weihnachtslieder singen wollte, sangen sie eben Weihnachtslieder.

Meist jedoch sieht Weihnachten bei ihnen im Gundeli-Quartier anders aus, ein wenig wie die Strassen vor ihrer Wohnung: «ä klei multikulti». Papa Blaser lädt gerne afrikanische Freunde ein, meist Bekannte aus der alternativen Basler Kunst- und Kulturszene, um für seine Patchworkfamilie zu kochen. Wenn die Kinder davon berichten, grinsen sie, glänzen die Augen. Alle drei haben die eine oder andere Anekdote zu erzählen. Und zuletzt sagt Svenja: «Das Schönste ist, dass die Familie dann zusammenkommt, es gemütlich ist.» Religiöse Feiertage verstehen die drei in erster Linie als familiäre Freitage. Missen will sie niemand. Abschaffen schon gar nicht.

Für gewisse Menschen, so glaubt Anaïs, bedeutet der Glaube Sicherheit. Etwas, an dem sie sich festhalten können. Sie sucht sich ihren Halt woanders: in der Familie, bei Freunden, im Umfeld. Ausgeschlossen oder gar minderwertig fühlen sich die drei wegen ihrer Konfessionslosigkeit nicht. In ihrem Freundeskreis gibt es alles: Gläubige und Ungläubige, Agnostiker, Moslems und Katholiken – «einen wirklichen Unterschied macht das nicht», meint Svenja. Die meisten ihrer Freundinnen seien in Glaubensdingen wie sie. Fragend, unsicher, aber nicht dogmatisch. Sie sagen: Jugendliche kommen gut damit klar, wenn einer an etwas anderes glaubt.

Die Nationalfondsstudie kommt zum gleichen Urteil: «Jugendliche sind anderen Religionen gegenüber offen.» Allerdings gibt es grosse Unterschiede, je nachdem, wo die Jugendlichen aufwachsen, ob sie einen Migrationshintergrund haben, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören und wie stark ihr eigener Glaube ausgeprägt ist. Besonders tolerant sind – auf den ersten Blick vielleicht erstaunlich – gläubige Jugendliche. Und in der Stadt ist die Toleranz gegenüber Andersgläubigen wesentlich grösser als auf dem Land.

Ob sie denn der Meinung sei, sie selber sei ein guter Mensch? «Hm», macht Svenja dann – und stockt kurz. Dann sagt sie: «Ja, ich glaube schon. Ich habe auch meine schlechten Seiten. Aber ich gebe mir Mühe.» Und wie werden sie dereinst ihre eigenen Kinder in Glaubensfragen erziehen? «Genau wie unsere Eltern», sagt Svenja – und schmunzelt: «Wir sind ja nicht schlecht rausgekommen, oder?»